Peer Gynt-Suiten op. 46 und op. 55

Zurück
t1 Konzertführer
Edvard Grieg
Peer Gynt-Suiten op. 46 und op. 55

Aus den vierundzwanzig zu lbsens Drama Peer Gynt in den Jahren 1874 bis 1876 entstandenen Schauspielmusiken (op. 23) fasste Grieg 1888 die Erste Orchester-Suite aus der Musik zu Peer Gynt als op. 46 (‚Morgenstimmung‘, ‚Aases Tod‘, ‚Anitras Tanz‘, ‚In der Halle des Bergkönigs‘) zusammen; auf Grund des Erfolgs der ersten Suite erschien 1891 als op.55 eine Zweite Orchester-Suite aus der Musik zu Peer Gynt (‚Der Brautraub – Ingrids Klage‘, ‚Arabischer Tanz‘, ‚Peer Gynts Heimkehr – Stürmischer Abend an der Küste‘, ‚Solveigs Lied‘).

Der visionäre Realismus des Dramatikers lbsen hatte für die Darbietung des Peer Gynt Filmszenen ersonnen, die, wenn sie sich schon nicht mit bühnentechnischen Mitteln seinen Vorstellungen entsprechend umsetzen ließen, so doch zumindest akustisch imaginiert werden sollten. Die der dramatischen Anlage des fünfaktigen Schauspiels entsprechende Reihung der einzelnen Kompositionen wurde für die Suiten aufgegeben, sodass der Vorwurf, hier seien mit entzückender Skrupellosigkeit, ohne dramatisches Kalkül, die heterogensten Dinge vermischt worden, sehr bald und laut erhoben wurde, wobei nicht vergessen werden darf, dass Grieg grundsätzlich in der Vertonung die autoritativen Maßgaben lbsens für die Abbildung der von ihm ausgewählten dramatischen Momente der Dichtung missachtet und – gerade auch in den für die Suiten ausgewählten Stücke – eine Grundstimmung musikalisiert!

Auf den pastoralen Zauber friedvoller Idylle (‚Morgenstimmung‘) folgt zum Tod der Mutter Aase nicht die dramatische Schilderung des von Peer in der Szene fiktiv entworfenen Himmelsrittes, sondern in einfachster Faktur die musikalische Analogie zum qualvollen Sterben (‚Aases Tod‘). Der dynamischen und sequenzierten Steigerung der Quart-Sekund-Motivik im sordinierten Streichersatz im ersten Teil steht entgegengesetzt der aus elysischen Höhen beginnende beständige Morendo-Abstieg – fast wie ein letztes großes Ein- und Ausatmen. Der Versuch, mit dramatischen Mitteln und Nonenharmonik, Pizzicato-Technik, frei eintretenden Orgelpunkten und Triangelklängen für ‚Anitras Tanz‘ ein orientalisches Kolorit zu gestalten, das nicht norwegischer hätte ausfallen können, wurde zu Lebzeiten Griegs als gescheitert erklärt (nordisch-polnisch-maurisch-chromatisch-kanonische Mazurka). Ganz anders dagegen der gespensterhafte Schlusssatz der ersten Suite ‚In der Halle des Bergkönigs‘. Peer Gynt, der sich nicht entscheiden kann, im Reich des Dovre-Alten zu bleiben, wird von Hexen und Trollen – in rauschafter Steigerung von Tempo (stringendo al fine) und Dynamik – gejagt; erst vor der Gestalt des Todes „flüchten die Trolle laut heulend und schreiend. Die Halle stürzt krachend zusammen, alles verschwindet.“

Dem Kontrast zwischen der wilden Szene des Brautraubes (Allegro furioso) und der Klage Ingrids (Andante doloroso) im Eingangssatz der zweiten Suite op. 55 schließt sich mit dem ‚Arabischen Tanz‘ der eher gelungene Versuch an, mit reichem Schlagwerk und entsprechender Instrumentation orientalischen Klangzauber zu entfalten. Das Schlagwort vom „Holländer-Motiv aus der fis-moll-Perspektive“ charakterisiert treffend den dritten Satz (‚Peer Gynts Heimkehr – Stürmischer Abend auf dem Meer‘), an dessen verhauchenden Ausklang sich ‚attacca‘ das wohl ausdrucksvollste Wahrzeichen skandinavischer Musik anschließt, die instrumentale Fassung von ‚Solveigs Lied‘. Hier scheint zum Ende noch einmal alles vereint, was den norwegischen Ton in der Musik Edvard Griegs auszeichnet: die einrahmende melancholische Moll-Monodie der Streicher, eine in Quart- und Sekund-Schritten langsam auf- und absteigende Melodie mit abwärts aufgelösten Leittönen in der Solovioline, kontrastiert von weit ausschwingenden Cello-Kantilenen mit elegischem Reiz in alterierter Harmonik, die bedächtige, über Bordun-Quinten und -Akkorden sich nur gering um ihren Mittelton punktiert schlängelnde stilisierte Tanzmelodik (Hardangerfiedel), der Ausklang in aufwärts geführten, oktavversetzten Quarten...

Seinem anlässlich Ludvig Holbergs 200. Geburtstag für Streicherorchester komponierten Perückenstück, der Suite im alten Stil: Aus Holbergs Zeit op. 40, wie Gades auf einzelne Bühnenwerke Holbergs bezogene Suite Holbergiana 1884 entstanden, vermochte Grieg selbst niemals die Wertschätzung wie sein Publikum entgegenzubringen. Die historische Perspektive (Preludium, Sarabande, Gavotte, Air, Rigaudon) verleugnet nicht in dem vom Komponisten behaupteten Maße den norwegischen Grundstrom musikalischer Substanz. Wenngleich die Grieg eigene Idiomatik in letzter Ausprägung fehlen mag, geht Grieg in seiner Enttäuschung über den Erfolg des Werkes auf Grund der von ihm empfundenen Entpersönlichung des Stils sicherlich zu weit: „Es ist leider nicht sehr schmeichelhaft für meine Kunst, dass gerade der Holberg-Suite dieser Erfolg zu Theil wurde, denn meine eigene Persönlichkeit habe ich darin ganz verleugnet, um längst verblichene Zeiten für einen Augenblick aus dem Grab zu werfen.“
Norbert Bolin

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.