Edgard Varèse

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t1 Konzertführer
Edgar Varèse
Edgard Varèse

Paris, 22. Dezember 1883 – New York, 6. November 1965

Edgard Varèse, geboren 1883 in Paris als Sohn eines Italieners und einer Französin, gestorben 1965 in New York, ist einer der lange verkannten Pioniere der Neuen Musik. Seine kompositorische Entwicklung zerfällt in zwei Phasen; dazwischen liegt die Zäsur seiner Auswanderung in die USA im Jahre 1915. In seinen jungen Jahren wurde Varèse von Busoni, den er in den Jahren seines Berliner Aufenthalts (1907 bis 1913) kennengelernt hatte, von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal gefördert. Er schrieb in dieser Zeit zahlreiche Orchesterstücke und symphonische Dichtungen, deren Manuskripte aber in Berlin bei einem Brand verlorengingen; das 1910 uraufgeführte Orchesterstück Bourgogne vernichtete Varèse später in den USA eigenhändig. Im Wesentlichen sind heute nur die in Amerika entstandenen Werke erhalten. Sie zeigen einen Komponisten, der, unbeirrt von europäischen Schulen und Kompositionsrichtungen, in dem von Tradition wenig belasteten musikalischen Klima Amerikas einen konsequent experimentellen Weg einschlug. Beeinflusst von den Experimenten der Futuristen und geleitet vom Interesse für die physikalisch-naturwissenschaftlichen Grundlagen der Musik, erforschte Varèse in seinen Kompositionen die klanglichen Dimensionen der Musik. So setzte er durch Verwendung von Geräuschinstrumenten (am konsequentesten in Ionisation für 13 Schlagzeugspieler und 42 Instrumente, 1930/31) und von Sirenenglissandi den bisher unantastbaren musikalischen Parameter der festen Tonhöhe und damit auch das temperierte System außer Kraft. Im verantwortungsvollen Umgang mit dem unbeschränkt verfügbaren Klangmaterial erblickte Varèse die Domäne wahrer künstlerischer Freiheit. In den parabolischen und hyperbolischen Klangkurven der Sirenen manifestierte sich für ihn seine Konzeption von Musik als Bewegung im Raum. Klang verstand er als ‚organized sound‘ – eine Auffassung, die zwangsläufig zur elektronischen Musik hinführte. In seinem Orchesterstück Déserts (1949 bis 1954), uraufgeführt 1954 in Paris unter Hermann Scherchen), kommen denn auch drei Tonbandzuspielungen mit elektronisch erzeugten Klängen vor. 1958 produzierte er dann für den Philips-Pavillon auf der Brüsseler Weltausstellung das Poème électronique, eine rein elektronische Komposition für drei Tonbandgeräte und 425 Lautsprecher.

Zu Beginn von Varèses amerikanischer Phase steht Ameriques für großes Orchester (1918 bis 1922), uraufgeführt 1926 in Philadelphia unter Leopold Stokowski. Der Komponist sagte über das Werk, er habe darin nicht nur seine ersten Eindrücke des hörbaren New York festgehalten, sondern auch seine Kindheitsphantasien über Amerika: „Es war das Unbekannte... neue Welten auf unserem Planeten, weit entfernte Räume.“ Das Gefühl des Aufbruchs in eine neue Zukunft hat sich in Ameriques in erregend visionären Klängen Ausdruck verschafft. Nach Hyperprism, Octandre und Intégrales, drei Werken für kleinere Besetzung, in denen sich Varèses physikalisch-objektivistisches Klangideal vor allem in scharf konturierten Bläserklängen und Schlagzeuggeräuschen ausprägt, entstand 1925 bis 1927 mit Arcana nochmals ein großes Orchesterstück. Es wurde 1927 ebenfalls unter Stokowski uraufgeführt und muss mit seiner exzessiven Klangentfaltung, verbunden mit einer alle Fesseln sprengenden Form, auf die Zeitgenossen noch irritierender gewirkt haben als sein Vorgänger Ameriques. Nach der europäischen Erstaufführung 1932 in Berlin empörte sich noch der Kritiker Heinrich Strobel: „Kein Ohr hält diese Musik auf die Dauer aus. Sie hat mit Musik nichts zu tun.“ Erst im hohen Alter hat Varèse langsam Anerkennung gefunden. Viel gespielt werden seine Kompositionen heute trotzdem nicht – sie nehmen sich im Repertoire des 20. Jahrhunderts noch immer wie erratische Blöcke aus. Varèses Werk scheint auch nach seinem Tod noch nicht richtig ins musikalische Bewusstsein gedrungen zu sein.

Max Nyffeler

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.