Symphonie Nr. 8 c-moll op. 65 (1943)

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t1 Konzertführer
Dmitri Schostakowitsch
Symphonie Nr. 8 c-moll op. 65 (1943)

Die 1943 in Moskau uraufgeführte fünfsätzige Symphonie führt einerseits die Nachfolge der Symphonie Nr. 7 in ihrem Pathos einstimmiger Linien, in ihrer Dramatik großer Zeiträume fort, ist auf ihre Weise ein Vorläufer der zehnten Symphonie in ihrer verbissenen Kontrapunktik, und allgemein bahnt sich in ihr Schostakowitsch reduktiver Spätstil an, in dem sich der Satz in bedeutungsschwere Elemente auflöst. Schostakowitsch Schachspieler-gehirn bewährt sich in der scharfsinnigen, phantasiereichen Entwicklung melodischer Einzellinien. In dieser Weise spielt er mit den Modellen seiner Symphonie Nr. 7 weiter, die oft auf theatralische Weise (wie in seiner vierten Symphonie) funktioniert und geschaltet werden: ein Marschmodell hierbei einigermaßen grotesk. Überhaupt werden melodische Elemente durch Konstellationen dramatisch eingesetzt, Idyllen mitunter durchbrochen. Steigerungen und Turbae kommen durch Häufungen des Materials zustande.

Im zweiten Satz treffen wir die – aus der Filmmusik zum Neuen Babylon, dem ersten Klavierkonzert oder dem Märchen vom Popen – vertraute Solotrompete in ähnlich parodistischer Funktion innerhalb eines phantastisch montierten Satzes, der dritte Satz hat einen – im orchestralen Bereich völlig ungewöhnlichen – Etüdencharakter im souveränen Umgang mit dem zeitlichen Raum und einem sophistischen Spiel mit zwei Modellen. Wenn es in zeitgenössischen Vorwürfen heißt, Schostakowitsch habe Musterbeispiele nihilistischer, zynischer Grotesken geliefert, könnte dies, ohne ein Vorwurf zu sein, für diesen Satz gelten. Im vierten Satz entwickelt sich wieder gedehnte Melodik in Halbtönen und leittonarmer Diatonik, die auch sonst der Symphonie eine eigentümliche Schwerelosigkeit gibt. Im fünften Satz inkarniert sich die Idee der Symphonik abseits von aller Programmatik, als ‚autonome‘ Musik im Sinne Bachscher Inventionen – die zu ihrer Zeit als verachtenswürdig und ‚formalistisch‘ galt; formal ereignet sich eine theatralische Episodenreihung. Letztendlich ist die Themeneinteilung dieser Symphonie eine oberflächliche Gegebenheit: Sie entwickelt sich in ständiger ‚epischer‘ Erneuerung des Materials wie seine Jugendsymphonien Nr. 2 und 3. Es gibt bombastische Aus- und Einbrüche im Inneren, sogar hochdramatische Steigerungen, dafür aber keinen monumentalen, apotheotischen Schluss: Das Werk endet in resignierendem Morendo (ähnlich der vierten Symphonie).

Schostakowitsch Freund, der Musikwissenschaftler Iwan Sollertinski, sah in der achten Symphonie (der letzten, die er erlebte) überhaupt den Höhepunkt seines Schaffens. Wenn der Begriff existierte, könnte man bei dieser Symphonie von einem ‚sozialistischen Surrealismus‘ sprechen.
Detlef Gojowy

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.