Symphonie Nr. 6 h-moll op. 54

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t1 Konzertführer
Dmitri Schostakowitsch
Symphonie Nr. 6 h-moll op. 54

Nach der erpressten Versöhnung mit der Parteibürokratie, die sich in der Partitur der fünften Symphonie niedergeschlagen hatte, verstummte Schostakowitsch für ein Jahr und entwarf dann den großangelegten Plan zu einer Symphonie mit vokalen Teilen, die dem Andenken Lenins gewidmet sein sollte und nie vollendet wurde. Einige musikalische Gedanken daraus flossen indessen in die im Herbst 1939 komponierte sechste Symphonie, die seit ihrer Uraufführung am 3. Dezember 1939 in der Leningrader Philharmonie unter der Leitung von Jewgenij Mrawinskij die Gemüter erhitzte. Sogleich nach der Uraufführung entbrannte ein Sturm der Entrüstung in Diskussionen und Kritiken darüber, wie Schostakowitsch es hätte wagen können, die Erwartungen des Publikums, mindestens die musikalische Ebene der fünften Symphonie einzuhalten, wenn nicht gar zu überbieten, derart zu enttäuschen und eine dreisätzige (!) Symphonie zu schreiben, die ein Rumpf ohne Kopf sei oder zumindest schizophrenen Charakter habe. Der Streitpunkt war die gewiss völlig unorthodoxe Form der Symphonie: Auf einen sehr ausgedehnten Largo-Satz folgen zwei – zusammen übrigens zeitlich genauso umfangreich wie der gesamte Kopfsatz – unverschämt aufreizend-freche Allegro-Sätze, die dem traurigen, ja trübsinnigen Charakter des ersten Satzes direkt ins Gesicht schlagen. Man bemängelte das Fehlen einer übergeordneten ‚Idee‘, etwa nach dem bewährten Schema ‚durch Nacht zum Licht‘, und man glaubte, die erwünschte heroisch-optimistische Haltung vermissen zu müssen. Schostakowitsch spielte stattdessen wieder einmal den „Gottesnarren“, der nur verschlüsselt sagt, was gesagt werden muss. Er setzte sich also die Stilmaske auf und komponierte – jedenfalls in den beiden schnellen, brillanten Sätzen – eine Musik in der Nähe Strawinskys.

Was das heißt, wird erst klar, wenn man sich vergegenwärtigt, in welcher Situation sich der Komponist damals befand: Im Januar 1936 wurde er offiziell wegen seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk gebrandmarkt und der westlichen musikalischen Dekadenz mitsamt der formalistischen Gesinnung bezichtigt. Das hatte zur Folge: Innere Emigration und – nach außen hin – erpresste Versöhnung, freilich in doppelbödiger Musik, was den Parteibürokraten jedoch verborgen blieb. Der ‚Jubel‘ des Finales der fünften Symphonie von 1937 ist der Jubel eines Geschlagenen, kein blanker Optimismus, vorausgesetzt, man ist gewillt, um die Ecke zu hören. Diese Dialektik des Ausdrucks gebrochener Positivität entfaltete Schostakowitsch ausdrücklich in der sechsten Symphonie, indem er krass völlig konträre Sätze gegeneinanderstellte, wenn auch dem Prinzip der Steigerung unterworfen. (Die fortschreitend schneller werdenden Tempi sind: Largo, Allegro, Presto.) Der Bogen spannt sich vom Pathos der spätromantischen Symphonie – man denkt etwa an Mahler und wohl auch an die vierte Symphonie von Sibelius – über Strawinskys „schnöde Finten“ (Adorno) bis hin zum ‚niederen‘ Genre der Unterhaltungsmusik am Schluss des Presto-Finales – eine Drehung um 180 Grad immerhin.

Wenn allerdings der Komponist Marian Kowal und auch andere meinten, Schostakowitsch dokumentiere hier sein angeblich „optimistisches“ Talent (das er übrigens in zahlreichen Filmmusiken durchaus zur Schau gestellt hat), dann liegt die Vermutung nahe, dass sie nicht genau hingehört haben. Sonst wäre ihnen nämlich das Behagen an der vermeintlichen Lebensfreude des Komponisten dubios geworden. Gerade der janusköpfige Charakter der Gesamtkonzeption der sechsten Symphonie verbietet eine solche Annahme. Es gibt keinen Grundcharakter dieser Symphonie, und das ist ihre Stärke. Immerhin sagte Schostakowitsch später: „Wahrscheinlich glaubten viele, ich sei nach meiner Fünften wieder aufgelebt. Nein, erst mit der Siebten begann ich wieder zu leben.“ Das besagt doch wohl für die sechste Symphonie, dass sie ein Werk zwischen Leben und Tod ist. Schließlich entstand sie ja in einer Periode der akuten Lebensangst des Komponisten: „In der Periode [...] war ich dem Selbstmord nahe. Die Gefahr schreckte mich. Ich sah keinen Ausweg. Ich war ganz und gar von Furcht beherrscht. War nicht Herr meines eigenen Lebens. Meine Vergangenheit war ausgestrichen. Meine Arbeit, meine Fähigkeiten – all das brauchte niemand.“ Selbstverständlich verschmähte es Schostakowitsch, sich selbst in seiner Musik zum Gegenstand zu machen. Er schaute lieber in den musikalischen Zerrspiegel, und der dünkte ihn wahrhaftiger als das offiziell verordnete, geschwollene Pathos.

Der sarkastischen Heiterkeit der beiden schnellen Sätze stellt er ein grüblerisches, statisch verhangenes Largo voran, das gewissermaßen auf der Stelle tritt. Zeit wird hier zum quälend langsamen Alptraum. Selbst die Themen drehen sich im Kreis, finden zu keiner endgültigen, abgesangsartigen Gestalt. Das erste Thema beispielsweise ist wie ein Kaleidoskop. Seine drei Motive erscheinen ständig abgewandelt und anders kombiniert, so als gäbe es keine Identität des Themas. Es ist eine Musik aus dem Niemandsland, von namenloser Trauer erfüllt, die nicht einmal sich traut, vor sich hinzusingen. Die eingestreuten rezitativischen Passagen der Solobläser klingen wie die Stimme des einsamen Rufers aus der Wüste. Die bleierne Gedrücktheit weicht nicht bis zum Ende des Satzes, obwohl die Musik immer wieder auszubrechen versucht. Es bleibt beim bloßen Abtasten der Fluchtmöglichkeiten, doch die definitive Gestalt, das Ziel, wenn man will: die Wahrheit, die niemand kennt, die Antwort auf die ewige Frage – alles das bleibt aus.

Mit dem grotesk-gespenstischen Scherzo lebt der Spuk des Sommernachtstraums wieder auf, freilich einer anderen Art als bei Shakespeare. Der Musik sitzt gewissermaßen die Angst im Nacken. Die Auffächerung der Orchesterfarben ist dabei unerhört und will darüber hinwegtäuschen. Die Partitur blitzt wirklich wie bei Strawinsky. Der Tanzcharakter ist nicht nur geistvoll und ‚spritzig‘ erfunden, sondern steigert sich bis zum Paroxysmus, der mit einem Salto mortale endet: Am Schluss fährt die Kamera davon.
Die Dynamik des Scherzos überschlägt sich im Aufgalopp des Presto-Finales, das – oberflächlich gehört – eine Art blendend übertriebener Daseinsfreude ausstrahlt, in Wahrheit aber eine bösartige Burleske, eine paradoxe ‚tour de force‘ ist, die jedoch nirgendwohin führt außer ans falsche Tor des Coda-Taumels, bei dem virtuell die Instrumente zerschlagen werden. Es ist sicher keine Apotheose ungehemmter Fröhlichkeit, sondern ein Ritt über den Bodensee – die Kehrseite des Grübelns.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.