Symphonie Nr.15 op. 141

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t1 Konzertführer
Dmitri Schostakowitsch
Symphonie Nr.15 op. 141

Mit seinem symphonischen Schlusswort kehrt Schostakowitsch äußerlich in die Umrisse der ‚klassischen‘, normativen Viersätzigkeit und zum reinen Spiel der Töne zurück. Aber der Schein trügt. Sogleich das Hauptmotiv stammt zwar aus der ironischen neunten Symphonie (und zwar aus dem Seitenthema des ersten Satzes), aber es unterliegt jetzt der Dialektik des Trivialen, an der sich die gesamte letzte Symphonie abarbeitet. Nichts ist mehr selbstverständlich, vor allem nicht die Tonalität. Alles klingt wie in Anführungszeichen, ähnlich wie oft bei Mahler, aber viel gespenstischer und noch skurriler als bei diesem. Die Floskeln der Tonalität scheinen sich noch einmal, obwohl sie längst gestorben sind, zum Leben aus zweiter Hand zu versammeln, und seien es nur Zitate. In das Spiel der Töne mischen sich fremde Stimmen ein, die indessen merkwürdigerweise gar nicht fremd wirken, so etwa das Zitat aus Rossinis Wilhelm Tell im ersten Satz, geblasen wie eine Feuerwehrkapelle aus Träumen Kafkas, oder das mahnende Nornenmotiv aus Wagners Ring (Weißt du, wie das wird?) im Finale, das zum Auslöser einer thematischen Entwicklung wird, die überdies als Grundlage die Schönbergsche Zwölftontechnik hat, wie überhaupt alles thematische Geschehen dieser Symphonie hintersinnig die beiden konträren Welten der Tonalitätsgravitation und der entfalteten Chromatik im Sinne Schönbergs miteinander verknüpft. Das Scherzo – ein Gespinst aus ehemals lebendiger Musik, die jetzt nur noch als Skelett erklingt – beginnt mit einer auf- und absteigenden Zwölftonmelodie, die gewissermaßen tonal festgenagelt wird durch obsessive Fagottquinten. Und der erste Satz schließt mit drei Sequenzen des aus der neunten Symphonie herausgenommenen und zugleich verfremdeten Hauptmotivs, das sich auf diese Weise zu einer kompletten Zwölftonreihe fügt, obwohl der Schlusston sich eindeutig auf das tonale Zentrum A bezieht. Schostakowitsch komponierte die Symphonie im Sommer 1971, also vier Jahre vor seinem Tod.

Dem früheren Pathos stellt er jetzt einen überlegenen Humor gegenüber, dem aber nicht zu trauen ist. Fremdartig klingt auch seine frühere Musik an: im ersten Satz der aufgebrochene, ätzend satirische Ton der Jugendoper Die Nase und im Mittelteil des langsamen zweiten Satzes der erste Satz der sechsten Symphonie. Schostakowitsch destilliert die neuen Ausdruckscharaktere aus einer ihm selbst fremd gewordenen musikalischen Welt. Das Spiel der Töne ist dabei, wie die Symphonie am Schluss zeigt, eine Methode, musikalischen Sarkasmus auszudrücken. Ohne das Wagner-Zitat, mit dem das Finale so bedeutungsvoll beginnt (einschließlich der typischen auskomponierten Stille der Wagnerschen Solopauke!), semantisch überstrapazieren zu wollen, könnte es doch seltsam erscheinen, dass der Komponist sich – sei es selbstironisch oder ernsthaft – die Frage nach dem Sinn und Zweck seines Tuns und möglicherweise der Musik als solcher stellt. Jedenfalls gibt er eine verblüffende Antwort: Der quälende Weg, den die Passacaglia des Durchführungsteils beschreitet, gipfelt im völligen Zusammenbruch, aus dem sich das Tor für eine musikalische Welt öffnet, die am Ende zwar die tonale Basis der Symphonie als Ziel zu erreichen scheint, aber so, als sei gerade das eine offene Frage. In einen vierzigtaktigen Orgelpunkt der Streicher, den Quintklang a-e (wer assoziiert da nicht sofort Maries Quinten aus Bergs Wozzeck?), klingt eine makabre musikalische Szenerie hinein, wie eine Collage, die aus zwei Zwölftonreihen, gekoppelt mit dem Hauptmotiv des ersten Satzes (Celesta und Piccoloflöte), dem Anfang des Passacaglia-Themas (Pauken) und einem flüsternden Geklapper der Geräuschinstrumente besteht, zu dem sich ganz am Schluss die bisher ausgesparte, für den Tonartencharakter jedoch entscheidende Terz der Grundtonart hinzugesellt, und zwar als letzte Reduktion – man ist versucht zu sagen: ‚Enthäutung‘ – des Klangs vom Xylophon wie ein höhnisches Gelächter, genauer: auflachend und verklingend, angestimmt. Das ist also von der Musik übriggeblieben: ein gleichsam in sich hineinkicherndes Spielwerk, das nur sich selbst genügt, niemandem mehr zugänglich ist.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.