Symphonie Nr.13 b-moll, Babij Jar, op. 113

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t1 Konzertführer
Dmitri Schostakowitsch
Symphonie Nr.13 b-moll, Babij Jar, op. 113

Als am 15. Oktober 1961 in Moskau anlässlich der Festkonzerte zum XXII. Parteitag der KPdSU die dem Andenken Lenins gewidmete zwölfte Symphonie mit ihrer dröhnend-affirmativen Schlussapotheose erklang, ahnte niemand, dass Schostakowitsch hiermit den Schlussstrich unter die kompositorische Phase seit den Vorgängen um die fünfte Symphonie gezogen hatte. Eine neue kulturpolitische Situation zeichnete sich ab: Die Öffnung zur Musik des westlichen Auslands – Igor Strawinskys Moskauer Besuch im Jahre 1962 war geradezu symbolisch dafür – schien ein politisches ‚Tauwetter‘ anzudeuten. Im Dezember 1961 entschloss sich Schostakowitsch denn auch, die lange zurückgehaltene vierte Symphonie endlich zur Uraufführung freizugeben und begann die dreizehnte Symphonie zu schreiben, mit der sein kompromissloser Spätstil eingeleitet wird. Schostakowitsch nimmt jetzt kein Blatt mehr vor den Mund. Er wagt es, Tabus der sowjetischen Gesellschaft aufzubrechen, ja sogar anzuklagen. Um sich eindeutig verständlich zu machen, greift er zu Texten und komponiert eine Vokalsymphonie, und zwar auf Gedichte desjungen Jewgenij Jewtuschenko: „Die Zuhörer können Musik nicht bis ins letzte verstehen, mit Worten geht es eher“ (Schostakowitsch). Die Auswahl der fünf Gedichte – eines davon, mit dem Titel Ängste, schrieb Jewtuschenko eigens für den Kontext der Symphonie dazu – rief, noch vor der Uraufführung am 18.Dezember 1962 in Moskau unter Kyrill Kondraschin, Proteste der Parteispitze hervor. Die Uraufführung wurde denn auch insofern boykottiert, als – entgegen den Gepflogenheiten – die Texte in den Programmheften fehlten. Und nach der Uraufführung, die bei allen Zuhörern größte Erschütterung hervorgerufen hatte, erschien auch keine Kritik. Stattdessen zwang die Parteibürokratie Jewtuschenko und den Komponisten zu Textänderungen, ohne die weitere Aufführungen ab sofort verboten waren. Hauptangriffspunkt war das erste Gedicht Babij Jar, in dem es Jewtuschenko wagt, schonungslos die Geschichte der Judenverfolgungen von der Dreyfus-Affäre bis hin zu Anne Frank mit dem zeitgenössischen sowjetrussischen Antisemitismus auf eine Ebene zu bringen. Schostakowitsch wusste natürlich genau, wie gefährlich es war, gerade dieses Gedicht zu vertonen und auch noch an die Spitze der Symphonie zu stellen. Offenbar wollte er nun die Maske des ‚offiziellen‘ Parteitagskomponisten endgültig ablegen und stattdessen die letzte Karte, die der persönlichen, moralischen Freiheit nämlich, ausspielen. Um also weitere Aufführungen der Symphonie nicht zu blockieren, änderten Jewtuschenko und Schostakowitsch die beanstandeten Zeilen. Der Sachverhalt ist folgender: Die mutige Verquickung der Nazi-Greueltat in Babij Jar, einer Schlucht bei Kiew, in der im September 1941 die größte dokumentarisch belegte Mordaktion der Geschichte stattfand – ein SS-Sonderkommando erschoss innerhalb von 36 Stunden mehr als 34000 jüdische Männer, Frauen und Kinder –, mit dem auch noch heute in der Sowjetunion herrschenden Antisemitismus rührte an eine Wunde der Parteiideologie und konnte natürlich nicht geduldet werden. Die entsprechenden Zeilen mussten ersetzt werden durch die affirmative Beschwörung sowjetischer Brüderlichkeit während der Bedrohung durch den Faschismus. In dieser Gestalt erklang die Symphonie fortan – wenn auch selten – auch auf der ersten Schallplattenaufnahme (ebenfalls unter Kondraschin). Inzwischen ist man zur ursprünglichen Fassung zurückgekehrt.

Ist es nun aber gerechtfertigt, den Autoren Schwäche vorzuwerfen, weil sie sich der Partei beugten? Der Anklagecharakter der Symphonie ist davon nicht betroffen. Ihre Aussage, den Antisemitismus aller Zeiten und Erscheinungsformen mit größter Härte zu verurteilen – „heutzutage kann kein Mensch, der den Anspruch auf Anständigkeit erhebt, Antisemit sein“ (Schostakowitsch) –, steht trotzdem fanalartig am Beginn des Werkes. Die anderen Sätze fächern das Bekenntnis zur Freiheit des Geistes, zur Menschlichkeit unter unmenschlichen Bedingungen und zur Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Missständen in einzelne, scharf konturierte Bilder auf, über die Schostakowitsch sagte: „Die Gedichte waren zu verschiedenen Zeiten veröffentlicht worden und sind unterschiedlichen Themen gewidmet. Ich wollte sie durch die Musik miteinander verbinden. Ich schrieb also eine Symphonie und nicht eine Reihe einzelner Bilder.“ Tatsächlich gehen die letzten drei Sätze, die musikalisch unterirdische Verknüpfungen aufweisen, ineinander über, und die musikalische Haltung des Finales mit einem Text, in dem es um echte und falsche Karrieren unter verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen geht, schlägt einen vorsichtigen, utopischen Ton an auf dem Hintergrund der angstbeklommenen früheren Sätze. Die Ausnahme bildet der zynische zweite Satz; der jegliche bürokratische Repression verspottet und den ‚Witz‘ als politisches Instrument begreift. Den beklemmenden Gegenpol bildet der vierte Satz (Ängste), die Schilderung der stalinistischen Verfolgungen und die bange Frage, ob diese für immer verschwunden seien.

Mit Mussorgskij war sich Schostakowitsch darüber einig, dass die Kunst nicht der Schönheit, sondern der Wahrheit zu dienen habe. Und die Musik, die Schostakowitsch zu Babij Jar schrieb, erinnert an Mussorgskij in ihrer Mischung aus modaler Thematik, jüdischer Volksmusik und grundierendem Grauen. Von Mussorgskij übernimmt er auch die gestische Musiksprache, so etwa, wenn der konduktartige Beginn den Charakter eines Trauermarsches – man beachte die Bassschritte! – zusammenfaltet mit dem alptraumhaften Schauer darüber (Bläserchromatik). Kennzeichnend für die gesamte Symphonie ist die lapidare Einfachheit der musikalischen Satztechnik, die gleichsam holzschnittartig und zugleich unerbittlich ernsthaft dem Geschehen nachfährt, ohne es zu illustrieren.

Die Wahl der musikalischen Mittel scheut dabei auch nicht vor drastischen Wirkungen zurück, etwa wenn der Triumph des politischen Witzes in das grelle Licht eines Mahlerschen Scherzos gerückt wird oder die alten und neuen Formen politischer Bespitzelung in fahlem, atonalen Licht erscheinen wie zu Beginn des vierten Satzes mit der unerhörten elftönigen, chromatischen Melodie der Solotuba, die, wie kaum sonst, Angst zu Musik werden lässt. Der sanfte B-dur-Klang der beiden Soloflöten zu Beginn des Finales wirkt daraufhin wie die Befreiung aus dem schwarzen Tunnel, wie eine Utopie ohne Affirmation. Diese Symphonie kennt am Schluss kein dröhnendes Pathos mehr. Sie vertraut einer besseren Zukunft, ohne sie auszumalen.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.