Jeux, Poème dansé (1912-1913)

Zurück
t1 Konzertführer
Claude Debussy
Jeux, Poème dansé (1912-1913)

Mit Jeux, einem Auftragswerk für Diaghilews ‚Ballets russes‘, die das Ballett am 15. Mai 1913, zwei Wochen vor der stürmischen Premiere von Strawinskys Le Sacre du Printemps im Théâtre des Champs-Elysees zur Uraufführung brachten, schrieb Debussy seine modernste, kühnste, ja avancierteste Partitur. Das legte ihm nicht nur das Sujet nahe, von dem Vaclav Nijinsky sagte, es sei eine „plastische Apologie des Menschen von 1913“, sondern Debussy vollstreckte hier das, was er in den ‚Jeux de vagues‘ aus La mer bereits intendiert hatte: die kalkulierte Auflösung aller musikalischen Elemente einschließlich des thematischen Komponierens und die Erfindung der Form als einem perspektivischen Labyrinth mit permanentem Tempowechsel und einem fluktuierenden Ablauf, der verschiedene Grade von Präsenz aufweist, so als würden vielfache Fäden gesponnen, die an den verschiedensten Stellen fallengelassen und später unvermutet wiederaufgenommen werden. Nach Jean Barraque hat hier das Genie der Form und der Formung seinen absoluten Höhepunkt erreicht: Die Form wirkt nach außen hin völlig diskontinuierlich, prägt aber im Inneren eine „alternative Kontinuität“ aus, einen vielschichtigen Ablauf, bei dem es sogar Entwicklungen gibt, die gar nicht direkt hörbar werden, sondern hinter der Szene gleichsam unbemerkt weiterlaufen, sich gleichsam wie „in Abwesenheit“ vollziehen und plötzlich mit ihrem Ergebnis wieder ins Geschehen eintreten. Die proteusartigen Verwandlungen aus La mer, speziell aus dem Mittelsatz, stiften jetzt den gesamten Ablauf. Pierre Boulez spricht daher von einer äußerst flexiblen Form, die sich „von Augenblick zu Augenblick“ erneuere. Die Musik wird wirklich zu dem (abstrakten) ‚Spiel‘, das der schlichte, sachliche Titel andeutet, und gebärdet sich selbst wie der hüpfende Tennisball, der die Balletthandlung auslöst (und abschließt): „Nach einem sehr langsamen, sanften und träumerischen Vorspiel von wenigen Takten, in dem über der gehaltenen Tonika h der Violinen der Akkord aus allen Tönen der Ganztonleiter in seinen verschiedenen Umkehrungen auftritt“ – wer denkt da nicht an Schönbergs spätere Reihentechnik? – „erscheint ein erstes Motiv Scherzando im Dreivierteltakt. Sehr bald wird es unterbrochen durch die Rückkehr der Anfangstakte, dieses Mal vom Summen tiefer Streicher getragen; dann wird das Scherzando mit einem zweiten Motiv wiederaufgenommen. In diesem Augenblick beginnt die Handlung: Der Ball fällt auf die Bühne; ein junger Mann im Tennisdress springt mit erhobenem Racket über die Szene. Er verschwindet... Dann kommen zwei junge Mädchen, furchtsam und neugierig. Sie scheinen nur einen geeigneten Platz für vertrauliche Mitteilungen zu suchen. Eine nach der anderen beginnt zu tanzen. Plötzlich halten sie inne, durch ein Blätterrascheln stutzig gemacht. Durch die Zweige sieht man den jungen Mann, der ihre Bewegungen mit den Blicken verfolgt. Sie wollen weglaufen. Aber er führt sie sanft zurück und überredet eine von ihnen, mit ihm zu tanzen, er küsst sie sogar. Unwille oder Eifersucht“ – die Ambivalenz der Gefühle ist überaus charakteristisch, vor allem in Debussys Musik – „des anderen jungen Mädchens, die einen ironischen und spöttischen Tanz im Zweivierteltakt beginnt und dadurch die Aufmerksamkeit des jungen Mannes auf sich lenkt: er fordert sie zu einem Walzer im Dreiachteltakt auf, in dem er die Schritte angibt; das junge Mädchen wiederholt sie zuerst wie zum Hohn, lässt sich dann aber vorn Zauber des Tanzes mitreißen. Die andere hält sie zärtlich immer wieder davon ab, und nun entwickelt sich ein Tanz zu Dreien, der immer lebhafter wird bis zu einem ekstatischen Höhepunkt; ihn unterbricht das Aufspringen eines neuen verirrten Tennisballs, das die drei jungen Leute weglaufen lässt; die Akkorde des Vorspiels kommen wieder, dann noch ein paar verstohlen gleitende Töne – das ist alles.“ So steht es im Programmheft zur konzertanten Erstaufführung am 1. März 1914, möglicherweise unter Mitarbeit des Komponisten formuliert. Das Stück ist gewissermaßen Debussys La Valse, denn es ist eine Walzermelodie, die allmählich aus den zahlreichen und vor allem zwielichtigen tänzerischen Gesten erst herausgefiltert wird: Bei diesem Vorgang ergeben sich geradezu surrealistische Wirkungen, so „als ob man hinter der verschlossenen Tür eines Ballsaals Undeutliches hört, das sich beim sekundenlangen Öffnen der Tür zum buchstäblichen Walzer verdichtet“ (Albert Jakobik). Die Form der Musik und die poetische Idee der Balletthandlung sind kongruent.

Die Auflösung des Klangbildes ist ohne Beispiel; Debussy gebietet hier über eine Freiheit der musikalischen Gestaltung, die sich von der Tonalität und vom thematischen Komponieren so weit entfernt, dass es kaum übertrieben scheint, von einer Grenzüberschreitung zu sprechen. An Stelle festgefügter Themen oder zumindest Motive treten ostinatoartige Gestalten auf, die aber den Ablauf nur davor bewahren, sich ins Amorphe zu verflüchtigen. Abgesehen von der durch die Rahmenhandlung des Balletts vorgegebenen Bogenform gibt es keine Wiederholungen (außer den unmittelbaren) und keine architektonischen Symmetrien. Alles ist ‚Erfindung‘ im buchstäblichen Sinn, sogar der Orchesterklang, denn der kompakte Tutti-Klang ist aufgegeben; stattdessen gibt es eine ganze Skala von Farbwerten, deren Modernität unbeschreiblich ist. Debussy sprach selbst von „orchestralen Farben, die von rückwärts erleuchtet sind“(!). Und er verfügte auch über die Polarität der harmonischen Farben, die er dem Wechsel von einfachen (Diatonik) und gemischten, zwielichtigen Gefühlen (Poly- und A-Tonalität) zuordnete. Die Hintergründigkeit und Ambivalenz der Gefühle, die bereits in der Balletthandlung aufscheinen, hätte kaum treffender ins Werk gesetzt werden können.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.