Frühe Werke 1880-1891

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t1 Konzertführer
Claude Debussy
Frühe Werke 1880-1891

Die ersten anderthalb Jahrzehnte seines Schaffens – zwischen 1879 und dem Abschluss der Arbeit am Prélude ‚à l'après-midi d'un faune‘ im September 1894 – stehen ganz im Zeichen der Spätromantik und des ‚wagnerisme‘. Die (nur im vierhändigen Klavierauszug skizzierte) Symphonie h-moll von 1880 unterscheidet sich in nichts von anderen französischen Symphonien der Zeit – von denen Chaussons, Faurés, Francks, Lalos oder Saint-Saëns‘. So offenkundig hier und in anderen Werken die Verwurzelung Debussys in der romantischen Tradition hervortritt, so verzweifelt hat er sich gegen sie gewehrt und sich von ihrem Ruch zu befreien versucht. Die Fantaisie für Klavier und Orchester (1889/90) zum Beispiel, deren zyklische Form das Vorbild Francks, D‘Indys und Saint-Saëns‘ nicht verleugnen kann, zog Debussy unmittelbar vor ihrer Premiere zurück; erst im November 1919 spielte Alfred Cortot die postume Uraufführung des Werkes. „Debussy beschuldigte sich selbst eines unüberlegten Fehlgriffs. Er stellte fest, dass sein Stil seinen Glauben zu verraten drohte, und distanzierte sich von der Fantaisie; sie schien ihm wegen ihrer traditionellen Themen-Durchführungen und ihres kontrapunktischen Gerüsts nach Schulmäßigkeit zu riechen“ (Maurice Emmanuel).
Auch in der Wahl seiner Texte und im Gestus ihrer Vertonung bleibt Debussy lange Zeit Romantiker. Printemps (Frühling, für Frauenchor und Orchester, nach einer Pastorale des Comte de Ségur) und lnvocation (Anrufung, für Männerchor und Orchester nach Alphonse de Lamartine) – zwei Arbeiten, mit denen sich Debussy 1882 und 1883 um die Vorausscheidung des Prix de Rome bewarb – sind in ihrem bald naiven, bald emphatischen Ton kaum mehr als harmlose ‚Schularbeiten‘; lediglich in manchen Instrumentationswendungen (wie die beiden Harfen in Printemps) lässt sich der spätere Debussy vorausahnen.

In jenen Jahren hatte Debussy engste Kontakte zum Kreis der Symbolisten, die – in Anlehnung an Charles Baudelaire und in einer übersteigerten Verehrung für Wagner – die literarische Avantgarde bildeten. Der ‚wagnerisme‘ hatte in den 1870er Jahren die gesamte französische Literatur erfasst, während sich die Musiker zunächst nur zögernd der Strömung anschlossen. 1876, im Jahr der Bayreuther Ring-Premiere, wurden Stéphane Mallarmé und Paul Verlaine als „poètes maudits“, als ‚geächtete Dichter‘, von der offiziellen Schule des Parnasse verstoßen; rund ein Jahrzehnt später druckte die neugegründete ‚Revue wagnérienne‘ Mallarmés Hommage ab, Huldigung an den „Gott Richard Wagner“, und Verlaines Sonett Parsifal, Hymnus auf die Verschmelzung von Kunst und Religion in der Musik. im selben Jahr 1886 rief Jean Moréas die erste ‚Ecole symboliste‘ ins Leben, deren ästhetisches Manifest im ‚Figaro‘ veröffentlicht wurde. Der Symbolismus verstand sich als eine Kunst der Einsamkeit, eine Kunst, die keines Publikums mehr bedarf, weil sie sich selbst genügt. Der ‚geächtete‘ Künstler steht in seinem Streben nach dem Ideal (der Schönheit) außerhalb der Gesellschaft, sein Werk ist dem sozialen Engagement der Naturalisten – in Frankreich vor allem durch Émile Zola repräsentiert – diametral entgegengesetzt. Kunst hat keine Aufgabe, keinen außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck – sie ist ‚l'art pour l'art‘, Kunst um der Kunst willen. Schon 1835 hatte Théophile Gautier verkündet: „Nur das, was zu nichts nütze ist, ist wahrhaft schön; alles Verwendbare ist hässlich.“

Diese Maximen lassen sich ungebrochen auch auf die Ästhetik Debussys übertragen, der sich in den 1880er Jahren zunehmend vom spätromantischen Stilideal löste und dem Wagner-gläubigen Symbolismus zuwandte. In der Rompreis-Kantate L'Enfant prodigue (Der verlorene Sohn, 1884) ist die überladene Alterationschromatik Wagners mit ihrer Vorliebe für die Tristan-Tonarten H-dur und Fis-dur ebenso eklatant wie in der Kantate La Damoiselle élue (Die auserwählte Jungfrau, 1887/ 88). Der Text des englischen Präraffaeliten Dante Gabriel Rossetti, den Debussy für Sopransolo, Frauenchor und Orchester vertont hat, ist in seiner religiös verbrämten Erotik und Schwülstigkeit charakteristisch für die morbide ‚décadence‘ der an sich selbst krankenden europäischen Kultur am Vorabend des Ersten Weltkriegs, zu der sich Debussy auch in seiner Oper Pelléas et Mélisande und im Martyre de Saint-Sébastien bekannt hat. Die Académie des Beaux-Arts, der der Komponist seine Partitur vorlegte, gab sich skeptisch: „Die Musik entbehrt nicht der Poesie und des Zaubers, wenn sie auch immer noch jenen systematischen Hang zur Verschwommenheit in Ausdruck und Form erkennen lässt, den die Akademie schon früher dem Komponisten vorzuwerfen hatte.“ Deutlicher als in allen vorausgegangenen Werken zeigt La Damoiselle élue Stilelemente des späteren Debussy: Abgesehen vom Gestus des Anfangs, der die ‚Nuages‘ der zehn Jahre später komponierten Nocturnes antizipiert, finden sich hier bereits die Akkord-Rückungen und Intervall-Parallelen, die rezitativische Vokalbehandlung und die Transparenz der Instrumentation und der Harmonik, deren „offenen Farben“, „Setzungsfarben“ und „Gegenfarben“ (Albert Jakobik) die Eigenständigkeit und Faszination der Musiksprache Debussys ausmachen, wenn sie nicht dem ‚impressionistischen‘ Interpretationsklischee zum Opfer fallen und in einem heillos diffusen Klangbrei versinken...

Daneben entstanden in diesen Jahren vor dem Prélude ‚à l 'après-midi d'un faune‘ und dem Pelléas die (1907 von Henri Busser orchestrierte) Petite Suite für Klavier zu vier Händen, in der sich – ähnlich wie in den Verlaine-Liederzyklen Ariettes oubliées und Fêtes galantes – die Schäferidyllen des französischen Rokoko widerspiegeln, die (1923 von Maurice Ravel orchestrierte) Tarantelle styrienne und die (1908 von Debussy selbst orchestrierte) Marche écossaise sur un thème populaire für Klavier zu vier Händen: kleine, postromantische Stücke in weitgehend traditioneller Manier, ein Atemholen vor dem großen Wurf des Pelléas.
Michael Stegemann

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.