Danses, Martyre de Saint-Sébastien, Rapsodies, Chorwerke, Children's Corner, La Boîte à joujoux und Khamma

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t1 Konzertführer
Claude Debussy
Danses, Martyre de Saint-Sébastien, Rapsodies, Chorwerke, Children's Corner, La Boîte à joujoux und Khamma

Die Archaik und Statik, zu der sich Debussy in den Chansons de Bilitis erstmals bekannt hat, bestimmt fortan viele seiner Partituren. Sie ist in der Kargheit der beiden Danses, die er 1904 im Auftrag des Pariser Verlages Pleyel für chromatische Harfe und Streicher komponiert hat, ebenso zu spüren wie in der Umarbeitung einiger der Chansons de Bilitis zu den Six Epigraphes antiques für Klavier zu zwei oder zu vier Händen von 1914, die der Dirigent Ernest Ansermet 1939 für Streichorchester gesetzt hat. Am deutlichsten aber tritt sie in dem fünfaktigen Martyre de Saint-Sébastien zutage; das 1911 für die Tänzerin lda Rubinstein komponierte Werk, an dessen Orchestration vermutlich Debussys Schüler und Freund André Caplet maßgeblichen Anteil hatte, wird heute fast nur noch in Form der drei Fragments symphoniques aufgeführt. Der Text Gabriele d'Annunzios ist in der Verknüpfung von Religion und Erotik (das Martyrium als Lustprinzip...) womöglich noch ungenießbarer als der Rossettis für die Damoiselle élue. Debussys Musik aber geht in ihrer mit geringsten Mitteln erreichten Spannung – etwa in den a capella-Sätzen des Vokalterzetts (Sopran, Mezzosopran und Alt), in den knappen Ostinati oder in den harmonisch kaum mehr gestützten, weit ausladenden Bläsersoli – weit über die ästhetischen Grenzen der Damoiselle und des Pelléas hinaus. Das Prinzip der ‚clarté‘, der Durchhörbarkeit aller simultan oder sukzessiv ablaufenden musikalischen Ereignisse, ist hier beispielhaft realisiert, was den Kontrast zwischen der Überladenheit des Textes und der archaischen Strenge der Musik umso stärker (und störender) hervortreten lässt.

Aus dem Jahrzehnt zwischen Pelléas und dem Martyre stammen auch einige kleinere Werke, die Debussy zum Teil nur widerwillig auf sich genommen hatte. An der Rapsodie (ursprünglich Rapsodie mauresque) für Saxophon, einem Auftrag der amerikanischen Saxophonistin Elisa Hall, arbeitete der Komponist zehn Jahre lang, ohne das Werk zu beenden; erst 1919 realisierte Jean-Jules Roger-Ducasse an Hand des Klavierauszugs und einiger Skizzen die Partitur, die mit ihrer Mischung aus arabesken Orientalismen und Jazzeinflüssen einen merkwürdig zwiespältigen Eindruck hinterlässt. Auch die beiden Sätze einer Bühnenmusik zu Shakespeares King Lear, die Debussy 1904 begonnen hatte, blieben Fragment und wurden 1926 von Roger-Ducasse orchestriert. Die 1909/10 für einen Wettbewerb des Conservatoires komponierte Rapsodie für Klarinette gehört ebenso zu den kleineren Gelegenheitswerken wie der Klavierwalzer La Plus que lente von 1910, in dessen Orchesterfassung (1912) Debussy ein Solocymbal verwendet, das die träumerische Schwerblütigkeit des Stücks noch unterstreicht.

Schon in den drei Chor- Chansons de Charles d'Orléans (1898 und 1908) und in den Trois Chansons de France (1904) für Gesang und Klavier hatte sich Debussy – wie es sich für einen ‚musicien français‘ jenseits des ‚wagnerisme‘ geziemt – mit der französischen Dichtung des 15. Jahrhunderts auseinandergesetzt. 1910 ließ er diesen beiden Triptychen die Trois Ballades de François Villon folgen, die er noch im selben Jahr orchestrierte. Asketische Dreiklangs- und Quintfolgen zum einen und – in der mittleren ‚Ballade que Villon feit à la requeste de sa mère pour prier Nostre-Dame‘ (,Ballade, die Villon auf Bitten seiner Mutter als Gebet zur Jungfrau Maria verfasste) – kirchentonale Gesangsmelodien mit psalmodierenden Tonrepetitionen entwickeln den Satzstil des Pelléas konsequent weiter; dabei ging es Debussy vor allem darum, „nahe am Wort zu bleiben und die Rhythmen der Sprache genau nachzubilden, ohne der Inspiration Fesseln anzulegen“. Die Orchesterfassung mit ihrer effektvollen, aber etwas massiven Instrumentation entspricht dieser Idee freilich weniger als die ursprüngliche Version des Zyklus für Bariton und Klavier.

1906 bis 1908 war für Debussys Tochter Chouchou der sechsteilige Klavierzyklus Children's Corner entstanden, den André Caplet (mit dem Einverständnis Debussys) 1910 orchestrierte; auch das Kinderballett La Boîte à joujoux, das Debussy 1913 nach einem Libretto des Malers Andre Helle im Klavierauszug skizziert hatte, wurde 1918/19 von Caplet vollendet, nachdem der Komponist über die Arbeit an der Partitur gestorben war. Hier findet sich auch der schon 1909 komponierte Cake-Walk The Little Nigar wieder – eines der berühmtesten und meistbearbeiteten Stücke Debussys. Die Kinderwelt, die diese beiden Werke musikalisch evozieren, ist freilich alles andere als unschuldig oder naiv; die Clementi-Parodie im Doctor Gradus ad Parnassum und das verzerrte Zitat des Tristan-Akkords in Golliwogg's Cake-Walk genügen, um die Doppelbödigkeit dieser Miniaturen zu entlarven.

Eines der erstaunlichsten Werke des späten Debussy ist die „ägyptische Tanzlegende“ Khamma, die er 1911/12 im Auftrag der kanadischen Primadonna Maud Allan entwarf und die – nach einigen Skizzen und Anweisungen des Komponisten – von Charles Koechlin orchestriert wurde. Ähnlich wie in der Tanzdichtung Jeux ist die rhythmische Textur des Werkes über weite Strecken der Partitur a-melodisch, eindeutig erkennbare thematische Abschnitte werden mehrfach wiederholt (anstatt sich zu entwickeln), die Kontraste der Klangfarben und der (oft unaufgelöst dissonanten) Harmonien sind extrem scharf gezeichnet. Die Nähe zu Strawinsky und zur Ästhetik der ‚Groupe des Six‘ ist evident.
Michael Stegemann

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.