Konzert für Orchester

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t1 Konzertführer
Béla Bartók
Konzert für Orchester

Ende Oktober 1940 verließ Bartók Ungarn und emigrierte nach New York. Es gab für ihn keine Verbindungen zur Heimat mehr; der Tod der Mutter im Dezember 1939 und der Beginn des Zweiten Weltkriegs, ferner die faschistische Besetzung der Tschechoslowakei hatten die Auswanderungsideen konkretisiert. Bartók war aber keineswegs glücklich in seiner neuen Heimat. Zwischen 1940 und 1942 komponierte er keine einzige Note; existentielle Sorgen standen im Vordergrund. Und die Krankheit, die bald zum Tode führen sollte, griff immer mehr durch. Bereits im Frühjahr 1939 hatte Bartók den Plan geäußert, eine Art „symphonisches Ballett“ für Orchester zu schreiben. Daraus wurde zunächst nichts, und wir haben Grund zu der Annahme, dass dieser Gedanke in das 1943 komponierte Konzert für Orchester einging, das der bereits schwerkranke Komponist im Auftrag der Koussevitzky Foundation für das Bostoner Orchester und seinen Dirigenten Sergej Koussevitzky schrieb. Der Dirigent suchte eigens den Komponisten am Krankenbett auf und überreichte ihm den Vorschuss, den der fast Mittellose auch dringend nötig hatte. Zwischen dem 15. August und dem 8. Oktober 1943 arbeitete Bartók fieberhaft an dem Werk, das zu seinen umfangreichsten Kompositionen für Orchester gehört (Spieldauer rund vierzig Minuten).

Es scheint, als hätten sich die über zwei Jahre lang aufgestauten musikalischen Kräfte energisch Bahn gebrochen, so unaufhaltsam floss der Strom der Einfälle und der Formideen. Bartók schrieb nichts Geringeres als die Summe seiner kompositorischen Erfahrungen, und zwar in einer seltsam ironischen Distanz, die bis heute missdeutet wird als Anbequemen an den amerikanischen Publikumsgeschmack. Das ist jedoch nur die äußere Seite des Werkes. Die scheinbare Einfachheit des Ausdrucks kann beim genaueren Hören nicht darüber hinwegtäuschen, dass es mehrere Ebenen gibt. Wer wollte es dem emigrierten Komponisten verargen, dass er diese Situation ausdrücklich in seiner Musik mitreflektierte? Immerhin hatte Bartók den Hauptteil seines Lebens der Erforschung und künstlerischen Aneignung der echten Volksmusik seiner Heimat bzw. des gesamten Balkanraumes gewidmet und begriff seine Emigration ohnehin nur als Intermezzo auf der Flucht vor dem verhassten Faschismus. So ist es nicht verwunderlich, dass im Zentrum des fünfsätzigen Konzerts für Orchester ein mit ‚Elegia‘ bezeichneter langsamer Satz steht, der nicht nur auf die langsame Einleitung des ersten Satzes zurückgreift – es gibt in diesem Werk vielfache unterirdische Querverbindungen –, sondern innerhalb der Satzfolge, die György Kroó treffend als „Fresko des Lebens“ bezeichnet, die Funktion einnimmt, die dem Tränensee in der einaktigen Oper Bartóks Herzog Blaubarts Burg zukommt.

Um den Satz herum gruppieren sich (bogenförmig) die „verschiedenen Aspekte des Lebens – Bilder des Kampfes, des Spieles, der Sehnsucht und der Ironie, zuletzt der Sieg oder, da wir 1943 schreiben, die Vision einer Befreiung“ (G. Kroó). Die Ecksätze sind die beiden großen Tutti-Ausbrüche, und den zweiten, inneren Bogen bilden die Intermezzi des zweiten und vierten Satzes mit konzertierenden Gruppen, besonders in dem ausdrücklich auf die ursprüngliche Ballettidee hinweisenden zweiten Satz, der als ‚Giuoco delle coppie‘ (‚Tanz der Paare‘) bezeichnet ist und eine Art musikalischer Choreographie ausprägt. Den zentralen, innerlichen Satz ‚Elegia‘ nannte Bartók selbst „das herzzerreißende Klagelied“ des Werkes.

Geht man von dem „Fresko des Lebens“ aus, das Bartók in seinem Konzert für Orchester gestaltet habe, dann wird auch verständlich, warum er es gerade ‚Konzert‘ genannt hat. Es ging ja nicht nur darum, dem Bostoner Orchester Stoff zur virtuosen Entfaltung der einzelnen Instrumente und Gruppen zu liefern – darauf braucht nicht eigens hingewiesen zu werden –, Bartók hatte vielmehr die Vielfalt und vor allem die Widersprüchlichkeit der Bereiche des Lebens im Auge. Das Konzertieren ereignet sich deshalb auf zwei Bühnen: einer Vorder- und einer Hinterbühne. Anders gesagt: Es müssen verschiedene Schichten des musikalischen Verstehens angenommen werden. Eine davon ist Bartóks Kunst des mehrdeutigen musikalischen Zitats. In keinem seiner großen Werke hat er so viele Zitate, Anspielungen und heterogene stilistische Ebenen mit seiner eigenen Musiksprache gemischt, wie im Konzert für Orchester. So klang ihm eben seine Musik unter den Bedingungen, in einem fremden, hektischen Land leben zu müssen, zu dem er nie einen tieferen Kontakt bekam.

Mit bitterer Ironie entwirft Bartók in dem ‚lntermezza interrotto‘ – der Titel verweist natürlich auf Debussys Sérénade interrompue – einen rondoartigen Zusammenstoß höchst konträrer Charaktere, um ein dialektisches Bild der durchaus vergeblichen Sehnsucht nach der wahren Heimat beschwören zu können: Auf ein simples Serenaden-Thema folgt eine sentimentale Melodie, die so klischeehaft ungarisch klingt, wie man sich gemeinhin ungarische Musik vorstellt. Bartók zitiert hier, als scharfen Kontrast zu der echten Volksmusik, ein populäres Operettenlied aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen (‚Schön, wunderschön bist du, Ungarland‘). Die Sehnsucht wird also enthüllt als schöner Schein. Indie Wiederkehr des Serenaden-Themas bricht dann höchst drastisch und illustrativ ein roher Gassenhauer ein, der in grotesker Verzerrung das frivole Couplet ‚Heut geh ich ins Maxim‘ aus Lehárs Lustiger Witwe herbeizitiert, übrigens eines Komponisten, den Bartók sehr gehasst hat. Die Fortsetzung jenes Couplettextes („da kann man leicht vergessen das teure Vaterland“) mag Bartók mitgedacht haben, ganz sicher aber die kleinbürgerliche Banalität, die bei ihm zur brutalen „Stiefelmusik“ (Kroó) wird und den Übergriff der Faschisten auf Ungarn darstellt. Die falsche Idylle wird von der gnadenlosen Realität überrollt.

Bartóks eigene Antwort darauf ist die Utopie der Völkerverbrüderung in dem großen Volkstanz-Finale, in dem sich orchestrale Virtuosität, die Fülle kompositorischer Verfahren und die verschiedenartigsten musikalischen Tonfälle die Hand reichen zu einer überschäumenden synthetischen Geste.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.