Die frühen Orchesterwerke

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t1 Konzertführer
Béla Bartók
Die frühen Orchesterwerke

Die symphonische Dichtung Kossuth, komponiert 1903, uraufgeführt am 13. Januar 1904 von der renommierten Philharmonischen Gesellschaft, brachte dem zweiundzwanzigjährigen Bartók unverhofft Ruhm und Anerkennung in ganz Ungarn ein. Der Kritiker Pongrácz Kacsóh stellte Bartók auf eine Stufe mit Strauss, D‘Indy, Tschaikowsky und Bruckner (!) und pries ihn „als ersten rein ungarischen Symphoniker“. Doch damit nicht genug: „Seit der Aufführung der Oper Bank Bán ist die Kossuth-Symphonie das bedeutendste kulturelle Ereignis der ungarischen Musikgeschichte. Was einst Ferenc Erkel auf dem Gebiet der Oper vollbrachte, vollbringt nun Bartók auf dem Gebiet der symphonischen Dichtung, die er auf ein noch höheres Niveau als Liszt in seinen Dichtungen Hungaria und Hunnenschlacht zu heben weiß.“ Mit Kossuth hatte Bartók nicht nur eine musikalische Lücke in Ungarns Kulturgeschichte geschlossen, er traf auch mitten ins Zentrum des zu jener Zeit in Ungarn – aber bei den anderen Völkern der untergehenden Habsburger Monarchie – aufwallenden Patriotismus und Chauvinismus, der sich besonders an Stoffen nährte, die den Freiheitskampf des eigenen Volkes in Geschichte und Gegenwart behandelten. Und wer war besser geeignet, Nationalbewusstsein und Freiheitsliebe der Ungarn zu symbolisieren als der legendäre Lajos Kossuth, einer der der Führer der gescheiterten 48er Revolution und später einer der fähigsten ungarischen Politiker der Doppelmonarchie. Musikalisch ist Kossuth – das leidenschaftlich und pathetisch dem Kampf und die Niederlage der ungarischen Truppen gegen die Habsburger schildert – eine ungarische Variante des Strauss‘schen Heldenlebens. Auch in Kossuth gibt es ein konkretes literarisches Programm, das in Form von Überschriften den neun musikalischen Abschnitten der Partitur charakterisierend vorangestellt ist: „Welcher Kummer belastet deine Seele, mein lieber Gemahl?“ lässt da der Komponist die fiktive Gattin des Titelhelden zu Beginn des zweiten Abschnitts fragen oder „Kommt, kommt, schöne ungarische Helden, schöne ungarische Ritter“ über dem siebenten Teil, wenn acht Hörner zur Entscheidungsschlacht rufen: Das ist die pure Strauss‘sche Konzeption, angereichert mit ungarischen Idiomen, soweit sie Bartók damals aus der volkstümlichen Kunstmusik bekannt waren: Richard Strauss im Land der Magyaren. Im Unterschied zum Heldenleben geht der Freiheitskampf der ungarischen Helden gegen die Habsburger tragisch aus, endet mit der Niederlage der Aufständischen. Die gleich einer rohen Dampfwalze anrollende Übermacht der Österreicher – Bartók charakterisiert sie durch eine fratzenhafte Abwandlung der ersten Takte des Haydn‘schen Kaiserhymnus „Gott erhalte...“ – bezwingt schließlich ungarischen Heldenmut und lässt das Stück in einem klagenden Adagio ausklingen. Kein Wunder, dass die Budapester Kritiker von diesem Manifest ungarischer Musik zu einem noch immer aktuellen, schmerzlichen ungarischen Thema hingerissen waren.

Auch in den nachfolgenden vier Orchesterkompositionen, die Bartók in dieser frühen Phase seines Schaffens bis 1907 schreibt und die er erstmals mit Opuszahlen (Opus 1-4) versieht, geht es in erster Linie um das Verarbeiten des starken Einflusses, den Strauss und Liszt auf Bartók ausüben, und das Herausbilden eines eigenen, national geprägten Stils, der die Linie Erkel-Mosonyi-Liszt fortführt. Während in den beiden konzertanten Stücken mit Soloklavier – in der Rhapsodie op. 1 (1904) und im Scherzo op. 2 (1904) – der brillante Pianist Bartók ganz in romantischer Tradition an das Erbe des brillanten Pianisten Liszt anzuknüpfen versucht, natürlich wieder auf der Basis magyarisch-rhapsodischer Intonationen, treten in der ersten Suite (für Orchester op. 3; 1905 bis 1920) die Tanztypen der volkstümlichen großstädtischen Kunstmusik, also des ‚verbunkos‘ und des ‚csárdás‘, bestimmend in den Vordergrund. Es ist schon verblüffend zu erleben, wie affirmativ Bartók hier mit der zigeunerisch angehauchten Unterhaltungsmusik seiner Zeit umgeht, wenn man weiß, wie radikal und konsequent er sich nur kurze Zeit später von dieser großstädtischen Kunstform abgewandt hat. Kein anderer ungarischer Komponist hat den betörenden Zauber und den mitreissenden Schwung von ‚verbunkos‘ und ‚csárdás‘, so gefühlssicher und treffend ins Instrumentarium eines Symphonieorchesters zu transformieren verstanden wie Bartók hier in seiner ersten Suite. Es ist, auf seine Weise, ein überzeugendes Plädoyer für die musikalischen Qualitäten dieser bald zu Unrecht in Verruf geratenen Tradition. (In Wirklichkeit hat sich selbst Bartók nie ganz vom ‚verbunkos‘ lösen können.) Dass der affirmative Weg der ersten Suite nicht sehr weit führen würde, das wird bereits in der nur kurze Zeit später begonnenen, aber erst im Frühsommer 1907 abgeschlossenen zweiten Suite (op. 4) deutlich, in der Bartók dem rhapsodisch-magyarischen Erbe Liszts erstmals konsequent ernste, seriöse Züge abzugewinnen versucht – und damit scheitert. Hier in der zweiten Suite wird die mangelnde Tauglichkeit des ‚csárdás‘ für weitergehende symphonische Konzeptionen offenkundig. Was Liszt in seinen späten Klavierstücken dem volkstümlichen Tanztypus abzutrotzen versuchte, nämlich kritische Aussagekraft, dies führt Bartók in seiner zweiten Suite in die Krise. Erst die Begegnung mit der alten Schicht ‚echter‘ ungarischer Bauernmusik auf seinen Forschungsreisen der darauffolgenden Jahre wird Bartók aus dieser Krise herausführen.
Attila Csampai

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.