Symphonie Nr. 6, Symphonische Phantasien

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t1 Konzertführer
Bohuslav Martinů
Symphonie Nr. 6, Symphonische Phantasien

Die kompositorischen Verfahrensweisen dieses Werkes sind denen der Symphonien Nr.1-5 sehr verwandt, die Ausdruckssphäre dagegen hat sich gewandelt; der Orchestersatz verzichtet auf das Klavier und die Harfe, verfügt dafür über sehr viel umfangreicheres und differenzierter eingesetztes Schlagzeug als in den vorhergehenden Symphonien. Die eigentümlich zwischen hell und dunkel schwankende Fünfte bildet eine Art Übergang zu dieser gespenstischen, spukhaften Symphonie Nr. 6. Martinū selbst hat dieses Werk eigentlich als Phantastische Symphonie bezeichnen wollen, diesen Titel aber wegen der Reminiszenz an Berlioz in die heutige Form geändert; zu dem Hexenspuk und der alptraumhaften Atmosphäre in dem ‚drame instrumentale‘ des Franzosen weist die sechste Symphonie Martinūs deutliche Affinitäten auf. Die Freiheit der konstruktiven Anlage wird durch die völlige Asymmetrie und die häufigen Tempowechsel deutlich. Der erste Satz – besser gesagt: die erste Phantasie – beginnt mit einem seltsam diffusen Brausen der Holzbläser und eines solistischen Streichtrios, aus dem sich ein rhythmisches Motiv der Trompete löst; die eigentliche ‚Urzelle‘ des Werkes erklingt darauf im Violoncello: Jene chromatische Umspielung eines Tones, die bereits 1890 Antonín Dvořák als Leitmotiv seines Requiems verwendet hatte und die seitdem in der tschechischen Musik häufiger aufgetaucht war (zum Beispiel in der Asrael-Symphonie op. 27, 1906, und auch in Martinūs eigener dritten Symphonie, 1944). Dieser geheimnisvolle, verhaltene Beginn korrespondiert mit dem ruhigen, gelösten Schluss; das Innere des Satzes aber ist von Ausbrüchen ungestümer Wildheit gekennzeichnet, die nur selten von kurzen lyrischen Episoden unterbrochen werden. Gleiches gilt für die zweite und dritte Phantasie, die die Funktionen des Scherzos und des Finales vertreten. Die elementare Wucht und Kraft vieler Stellen gemahnt – bei aller sonstigen Verschiedenheit der beiden Komponisten – an den Taras Bulba von Leoš Janáček, mit dem Martinūs sechste Symphonie nicht die Dreiteiligkeit und die stilistische Grundhaltung, sondern auch strukturelle Details, wie die häufige Verwendung der sogenannten ‚mährischen Kadenz‘ (einer bestimmten plagalen harmonischen Wirkung) verbindet.

Von den letzten drei konzertanten Werken (Oboenkonzert, 1955; Fantasia concertante für Klavier und Orchester, 1957) weichen die 1956 in New York entstandenen lncantations für Klavier und Orchester von der üblichen dreisätzigen Anlage ab, stehen der gespenstischen sechsten Symphonie am nächsten.
Hartmut Becker

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.