Symphonien Nr. 1-5

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t1 Konzertführer
Bohuslav Martinů
Symphonien Nr. 1-5

Selten hat ein Komponist so spät zu dieser zentralen Gattung gefunden und selten gelang eine so bündige und gänzlich neuartige Handhabung der Form. Äußerlich scheint sich Martinū eher in konventionellen Bahnen zu bewegen: Die Symphonien haben drei bis vier Sätze, die dreisätzigen stets einen langsamen Mittelsatz, während die viersätzigen (Nr. 1, 2 und 4) darüber hinaus einen raschen Satz des Scherzo-Typus enthalten (der freilich nie so benannt ist). Diese Musik tendiert weder zu instrumentatorischen Effekten noch zu dynamischen Exzessen; sie ist – wenngleich nicht mehr tonal geschlossen – nirgends ‚atonal‘. Der Versuch einer Analyse nach traditionellen Maßstäben aber versagt völlig wegen des ganz anderen Arbeitsverfahrens, der beschriebenen ‚Zellentechnik‘, die – nach der Erprobung im Concerto grosso-Prinzip – hier erstmals eine Anwendung auf die Symphonik erfährt. Martinū unterschied zwischen „Struktur“ eines Werkes als etwas „Festgesetztem und Bestimmtem“ und „Form“, die er als „lebendig“ auffasste, als „plastisch ereignete Empfindung“, die dem Zuhörer bei aktiver Annäherung an das Werk „im Laufe [...] der Aufführung, des Anvertrauens, an das Gedächtnis und der Aufnahme in das geistige Innere“ sich erschließt. Geistiges Nachvollziehen ist freilich vonnöten, um die dem organischen Wachstum so verwandte „klingende Biologie“ dieser Werke begreifen zu können. Wiederholungen und Symmetrien der Sonatensatzform existieren hier nicht, lediglich die Scherzi halten sich an den üblichen A-B-A-Aufbau. Die Ausdruckssphäre der fünf Werke reicht von der lichten, pastoralen Heiterkeit der Symphonien Nr. 2 und 4 über die epische Breite der Symphonie Nr.1 mit ihrem feierlich-monumentalen Largo bis zu den emotionalen Ausbrüchen der Symphonien Nr. 3 und 5. Deutlich knüpft Martinū in diesen Werken auf seine ganz persönliche Art an die symphonische Tradition seines Landsmanns Antonín Dvořák an: Stilisierte Elemente der heimatlichen Volksmusik durchdringen den Stil von den amerikanischen Jahren an. Im Gegensatz zu Janáček hatte sich Martinū nach Westen orientiert, darin Strawinsky verwandt; während sich in dessen Oeuvre aber die spezifisch ‚russischen‘ Elemente im Laufe der Exiljahre mehr und mehr verloren, verstärkte sich in Martinūs Tonsprache – wie bei Dvořák – ein ‚heimatlicher‘ Zug, je länger er sich im Ausland aufhielt.

Die amerikanischen Jahre brachten – neben den Symphonien – eine reiche Ernte auf dem konzertanten Sektor: Acht große Konzerte entstanden zwischen 1941 und 1953, darunter das zweite Violinkonzert und das zweisätzige Rhapsodie-Konzert für Viola und Orchester; an Qualität den Symphonien ebenbürtig, teilen diese Werke die Tendenz zu betont tschechischer Atmosphäre. Nicht nur Sehnsucht nach der Heimat, sondern bald nach Kriegsende auch die schmerzliche Erkenntnis, diese Heimat wohl nie wiedersehen zu können, haben solche Haltung mitbestimmt; so wie der Patriot Martinū den Faschismus abgelehnt hatte, war ihm auch ein Leben und Schaffen unter der Gewalt von dessen Gegensatz unmöglich. Die erneute Kontaktaufnahme mit Europa erfolgte auf zwei Reisen (1948 und 1949), ehe sich der Komponist zur endgültigen Rückkehr in die Alte Welt entschloss. Von 1953 an verbrachte Bohuslav Martinū seine letzten Lebensjahre in Nizza, Rom und der Schweiz, besuchte die USA ein letztes Mal 1955/56. Nahe bei Basel, in Schönenberg, auf dem Anwesen seines Freundes und Gönners Paul Sacher, erlag der Komponist am 28. August 1959 einem unheilbaren Leiden; wie Bartók, de Falla und Enescu starb er, der aufrechte Patriot, für dessen Schaffen die Volksmusik seiner Heimat so viel bedeutete, im Exil.

Diese letzten Lebens- und Schaffensjahre brachten nochmals eine Wandlung des Stils, die bereits in der 1953 in New York und Paris entstandenen sechsten Symphonie zu beobachten ist; sie setzte sich fort in den letzten beiden großen Orchesterwerken, den Fresques de Piero della Francesca (1955) und den Parabeln (1957/58).
Hartmut Becker

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.