Istar - Ballett in drei Akten

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t1 Konzertführer
Bohuslav Martinů
Istar - Ballett in drei Akten

Das umfangreichste und bedeutendste Werk aus Martinūs ‚impressionistischer‘ Schaffensphase ist das dreiaktige Ballett lstar, aus dem der Autor nach Abschluss der Gesamtpartitur zwei dreisätzige Suiten zusammenstellte. Stofflich ist das Libretto nach einem Ausschnitt des babylonischen Gilgamesch-Epos gestaltet, auf das Martinū 1955, gegen Ende seines Lebens, mit der Gestaltung einer großen dreiteiligen Kantate nochmals zurückgreifen sollte. Hält sich dieses späte, einstündige Werk an den authentischen Text des Epos, so zeigt die Ballettversion noch jene von der spätromantischen Ästhetik beeinflussten Retuschen der Handlungsmotivationen und das regelrechte ‚Umkehren‘ des Schlusses zu einem harmonischen Ausklang. Hochgespannte Empfindsamkeit und zarte, melancholische Poesie kennzeichnen den Ausdruck der lstar-Musik und geben unschwer die Einflüsse Debussys, aber auch Josef Suks zu erkennen; bewundernswert ist schon hier die Meisterschaft, mit der der Autodidakt Martinū einen so großen Orchesterapparat handhabt.

Weniger als ein Jahr des Studiums bei Suk in dessen Kompositionsklasse des Prager Konservatoriums (1922/23) überzeugte Bohuslav Martinū, dass sein Weg nicht der einer wie auch immer gearteten ‚Nachfolge‘ der Suk‘schen Intentionen sein könne; in der lstar-Musik, also noch vor jedem persönlichen Kontakt, standen sich beide am nächsten. Vorzugsweise missfiel Martinū die Art und Weise des schulmäßigen Kontrapunktunterrichts, den er als völlig theoretisch und praxisfern empfand. In diese Studienzeit bei Suk fallen zwei für die folgende Entwicklung des Komponisten sehr wesentliche Ereignisse: Václav Talich, immer an neuen Werken interessiert, wird auf den pausenlos komponierenden Martinū aufmerksam und befreundet sich bald mit ihm; von 1923 bis zur Besetzung der Tschechoslowakei verging keine philharmonische Saison in Prag, in der nicht mindestens ein neues Werk Martinūs seine Premiere erlebt hätte. Vor allem aber kommt der Komponist im Jahre 1922 durch Zufall in Kontakt mit einer Art Musik, die sein Schaffen so nachhaltig und stetig beeinflussen sollte wie nichts Anderes: Er hört in verschiedenen Konzerten des Vokalensembles ‚The English Singers‘ altenglische Madrigale, die ihn zum Studium der Werke Palestrinas und Lassos anregen. Die natürliche (weil vokale) Polyphonie dieser Musik, deren Akkorde sich frei, nicht nach den Regeln einer theoretischen ‚Harmonielehre‘ bilden, wurde fortan in immer steigendem Maße zum Vorbild für Martinūs Komponieren, das nun die bindenden Kräfte der harmonischen Struktur des 19. Jahrhunderts abzustreifen beginnt.

Mit einem Reisestipendium der Regierung ausgestattet, kann sich der Komponist im Sommer 1923 einen Traum erfüllen: Nach Paris, der ‚musikalischen Hauptstadt Europas‘ zu fahren, um den von ihm sehr verehrten Albert Roussel um Rat in kompositorischen Fragen anzugehen. Man darf diesen Kontakt nicht als ein Lehrer-Schüler-Verhältnis missverstehen; rein technische Dinge brauchte der Franzose dem Böhmen ohnehin nicht mehr beizubringen. Roussel schärfte seinen Sinn für Klarheit, Präzision und inneres Gleichgewicht, lenkte Martinūs Entwicklung in die rechten Bahnen, ohne ihn zu beeinflussen. Schon ein Jahr nach der Ankunft in Paris kam der persönliche Stil zum Durchbruch.
Hartmut Becker

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.