Benjamin Britten

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t1 Konzertführer
Benjamin Britten
Benjamin Britten

Lowestoft, 22. November 1913 – Aldeburgh, 4.Dezember 1976
Benjamin Britten hatte als junger Mann vor, seine kompositorische Lehrzeit in Wien bei Alban Berg fortzusetzen; da die Eltern (vielleicht auf Anraten von Brittens Lehrer Frank Bridge) angehalten wurden, sich diesem Wunsch ihres Sohnes zu widersetzen, kam der Plan nicht zustande. Es wäre reizvoll, darüber zu spekulieren, wie Britten wohl unter dem unmittelbaren Einfluss der Wiener Schule weiterkomponiert hätte (ähnlich wie im Fall von Berg selbst, der nur um Haaresbreite davon entfernt war, anstatt zu Schönberg zu Hans Pfitzner in die Lehre zu gehen). Vielleicht hätte sich Brittens Temperament auch unter solchen Umständen in ganz ähnlicher Richtung durchgesetzt, wie es das ohne die strenge Unterweisung des Schönberg-Kreises tat. Es lässt sich zwischen der lockeren, improvisatorischen, spielerisch-eklektizistischen Faktur der meisten Werke Brittens und der verantwortlichen und vielfach abgesicherten Satzkunst der Wiener Schule kaum ein größerer Gegensatz in der Musik des 20. Jahrhunderts denken.
Die moralische und künstlerische Integrität Brittens wird durch die Feststellung seines tonsprachlichen Eklektizismus nicht im mindesten tangiert. In Bezug auf die kontinentaleuropäischen Avantgarde-Tendenzen seiner Zeit war er ein ähnlich störrisches ‚Originalgenie‘ wie Janáček oder Sibelius. In eine nach dem Tod von Elgar, Delius und Holst (sie starben alle im nämlichen Jahr 1934) wieder akademischer und konservativer werdende Komponistenszene hineinwachsend, suchte sich Britten seinen Weg ganz abseits von dem, was die in Frankreich oder Deutschland lebenden Komponisten interessierte. Ungeachtet der Dogmen, mittels derer die Britten‘sche Kompositionstechnik anzufechten war, offenbarte sich dennoch die unwiderstehliche Kraft dieser Musik. Sie hat ihre Unverwechselbarkeit und eine eigenartige Sogkraft; wer sich im ersten Augenblick von der scheinbaren Leichthändigkeit, Simplizität oder Bekanntheit der Klangmuster irritiert fühlen mag, wird doch in den meisten Fällen allmählich gefangengenommen von einer behutsamen und gelassenen Fähigkeit der Verdichtung, poetischen Verzauberung oder gewaltfreien Überzeugung, die einer ‚Einfühlung‘ bedürfen und mit quantifizierenden oder definitorischen Analysemethoden kaum zu erfassen sind. Ähnlich wie (der mit ihm in späteren Jahren befreundete) Schostakowitsch, wenn auch aus ganz anderen Gründen, arbeitete Britten mit scheinbar verbrauchten Materialien (er hat sich niemals vom Konzept einer erweiterten Tonalität gelöst). Was dabei als Resultat herauskam, war zwar keine ‚Synthese‘ aus Tradition und Aktualität – derlei hatte der Komponist niemals beabsichtigt –, sondern ein ganz persönlicher, eigener Tonfall. Ein durchaus aber typisch englischer zudem, bewegt vom leidenschaftlichen Bedürfnis nach dem Verstandenwerden, fast nach ‚common sense‘. Einem Bedürfnis, zugegeben, das den ernsthaften modernen Komponisten auf dem Kontinent eher fremd ist. Soll man es bei Britten als ‚unverkrampft‘ feiern? Soll man sein Fehlen bei der Avantgarde als Mangel beklagen? Am besten ist wohl, wenn man die verschiedenen Möglichkeiten gelten lässt und auch das Britten‘sche Komponieren nicht voreilig der Regression und Uninteressantheit zeiht.
Britten gehörte zu den fruchtbarsten und vielseitigsten Tonsetzern des 20. Jahrhunderts. Der Schwerpunkt seines Schaffens lag auf der ‚gesungenen‘, textorientierten Musik, nicht zuletzt auf der Oper. Daraus geht hervor, dass er von ‚absolut‘-musikalischen Ideen weniger berührt war. Es scheint überdies, dass er auch keinem sonderlich strikten ‚Kunst‘-Begriff huldigte; er schrieb immer wieder Stücke ‚für den Gebrauch‘, anderen Kunstformen ‚dienende‘ Musik für Theater und Film, auch ein gerüttelt Maß an pädagogischer Musik. So sehr, wie er sich in solchen Arbeiten lockern – und als Komponist sozusagen fast unsichtbar machen – konnte, so dringlich zeigte er sich in Stücken, die, wie etwa das War Requiem oder die Sinfonia da Requiem, zugleich auch den Charakter von Bekenntniswerken annehmen.
Bemerkenswerterweise durchlief Britten keine allzu auffällige und aufregende kompositorische Entwicklung, wie das ja bei einem scheinbar ähnlich weit weg von der musikalischen Moderne angesiedelten Tonsetzer wie Schostakowitsch drastisch der Fall war (dort freilich vor allem als Reflex auf politische Verhältnisse). Britten war nie ein üppiger Klangmaler gewesen, eher ein Freund subtiler Aquarelle und bewegter Skizzen, angezogen von der musikalischen Imagination der schnell wechselnden Lichtwirkungen des Insellandes, hellhörig die Grauverschleierung der Streicher ausbalancierend und Farbflecken der Bläser dagegensetzend, flexibel auch im Rhythmischen, das sich der Unregelmäßigkeiten und Synkopierungen der altenglischen Volksmusik versichert. Die immer schon zum Sparsamen, Durchbrochenen, Leichtflüssigen neigende Satztechnik wurde in den Spätwerken zwar spürbar, aber nicht dramatisch ‚ausgedünnt‘.
Angesichts des vielgestaltigen, reichen Oeuvres nehmen die Orchesterwerke bei Britten nur einen relativ bescheidenen Rang ein, wiewohl etliche Stücke darunter sind, die zu den am häufigsten zu hörenden Kompositionen des 20. Jahrhunderts zu rechnen sind. Fast noch ein Schülerstück ist die 1934 beendete Simple Symphony, mitten im Studium entstanden, als Britten von seinem privaten Mentor Frank Bridge an das Londoner Royal College of Musik zu John Ireland überzuwechseln beabsichtigte. Für dieses Werk griff Britten zu Materialien, die er schon zehn Jahre vorher – zwischen seinem neunten und zwölften Lebensjahr – aufs Notenpapier gebracht hatte. Die Simple Symphony ist also ein richtiger Bubenspaß, meliorisiert durch eine ‚gereift‘-jünglingshafte Satztechnik, die sich mit perfektem Handwerk dem durchaus ironischen ‚neoklassizistischen‘ Gusto anschmiegt. Die vier Satzbezeichnungen sprechen beinahe für sich selbst: ‚Boisterous Bourrée‘ (‚Lärmende Bourrée‘), ‚Playful pizzicato‘, ‚Sentimental Saraband‘ und ‚Frolicsome Finale‘. Die Musik reproduziert getreulich die robuste Naivität der Überschriften – oder umgekehrt.
Ebenfalls für Streichorchester gesetzt sind die Variationen über ein Thema von Frank Bridge (1937). Dieses geistreiche Werk ist eine Huldigung an den Lehrer, die vielleicht sogar eine winzige gutmütige Rache enthält. Denn Britten ist zu diskret, um die sentimentale Melodie Bridges (einer Streichquartettidylle von 1906 entnommen) in der Originalgestalt einzuführen; er kleidet sie schon zu Anfang mit eigenen Tonsatztupfern verfremdend ein. Die erste Variation (Adagio) malt eine elegische Stimmung. Es folgt ein geisterhafter, von Triolen durchwetterter ‚Geschwindmarsch‘. Die sich anschließende ‚Romance‘ changiert zwischen zarter Schwelgerei und ironischen Brechungen. Die ‚Aria italiana‘ weckt in dem Thema ganz überraschende virtuose Energien. In der ‚Bourrée Classique‘ kommt Brittens Vorliebe für eine durch die neuromantische Brille gesehene Barock-Adaptierung zum Durchbruch. Ein verstörter, durch ahnungsvolle Pausen unterbrochener ,Walzer‘ bildet die Fortsetzung. Nach einem ‚Moto perpetuo‘ führt ein Miniatur-‚Trauermarsch‘ beinahe in die Klangsphäre Mahlers. Die neunte Variation (‚Chant‘) leitet zum turbulenten Finale hin, das neben der obligaten Fuge selbstverständlich die effektvolle und nicht des Augenzwinkerns entbehrende Glorifikation des bescheidenen Themas enthält.
Die Sinfonia da Requiem entstand 1940 während Brittens Aufenthalt in den USA. Sie wurde ursprünglich im Auftrag des japanischen Staates zum 2600. Geburtstag der Kaiserdynastie geschrieben, dann aber im März 1941 in New York unter der Leitung von John Barbirolli uraufgeführt. Sie war Brittens erstes Werk für großes Orchester. Im Instrumentarium (dreifaches Holz) fällt das in allen drei Sätzen mitwirkende Altsaxophon auf. Die Sätze tragen lateinische Überschriften: ‚Lacrymosa‘, ‚Dies irae‘ und ‚Requiem aeternam‘. Das Triptychon der (ineinander verschränkten) Tonbilder beschreibt die emotionale Bewegung Klage – Schreckensvision – Tröstung. Aus den düsteren tiefen Akkordschlägen des Beginns wächst allmählich ein Trauergesang (Violoncello, Fagott) heraus, der nach und nach alle Klanggruppen erfasst. Das flackernde, rhythmisch skandierte ‚Dies irae‘ geht in einen grellen Marsch über, dem eine beschleunigte totentanzartige Reprise des klanglich immer mehr aufgelösten Hauptteils folgt (gegen Schluss gibt es geradezu ‚punktuelle‘ Passagen im Partiturbild). Der ruhevolle Gesang des Finales baut sich, nach einer größeren dynamischen Steigerung, ab zum verhaltenen Schlussmorendo. Im Habitus eines säkularisierten liturgischen Modells berührt sich Brittens Werk mit der nur wenige Jahre jüngeren Symphonie liturgique von Honegger (beide Musiker waren beileibe keine praktizierenden Christen; Britten gehörte zeitweilig sogar der kommunistischen Partei an). In gewissem Sinn ist die Sinfonia da Requiem auch ein Vorläufer des ungleich kühner konzipierten War Requiem (1962). Sie ist dem Andenken an Brittens Eltern gewidmet.
Als eigenständiges Konzertwerk können die vier Sea lnterludes, Orchesterzwischenspiele aus der Oper Peter Grimes (1945) gelten. Zwar handelt es sich hier um die Schilderung von ‚Seelenlandschaften‘, was im dramaturgischen Kontext des Bühnenwerkes einen ganz bestimmten Stellenwert hat; andererseits ist die Imagination der Meeresküste von Suffolk (Brittens Heimat) zwischen Tag und Nacht, Ruhe und Sturm hier so stark und zwingend, dass sich eine geradezu symphonische Korrespondenz zwischen den einzelnen Sätzen ergibt – ein eklatantes Beispiel dafür, dass Musik in verschiedenen Zusammenhängen eine je eigene Gestalt und ‚Ästhetik‘ zu vermitteln vermag.
The Young Person's Guide to the Orchestra gehört zu den ‚pädagogischen‘ Werken Brittens und war als Bestandteil eines Films gedacht, der jungen Leuten die Orchesterinstrumente in Aktion vorstellen sollte. Seit der Uraufführung 1946 ist dieses Werk aber auch eine der beliebtesten Britten’schen Orchesterkompositionen. Formal handelt es sich um einen veritablen Variationenkranz über ein Thema von Henry Purcell samt abschließender Fuge. Nachdem zunächst das Thema vom vollen Orchester intoniert wird, folgen nacheinander die Hauptgruppen – Holzbläser, Blechbläser, Streicher, Schlagzeug. Des Weiteren bekommen die Einzelinstrumente Gelegenheit zu solistischer Entfaltung, wobei der pädagogische Zeigefinger lehrhaft-schmunzelnd auf die jeweiligen Klangspezifika deutet. In der Fuge wird das Instrumentarium nach und nach puzzleartig wieder zusammengefügt, und Purcells Thema im klangprächtigen Ornat setzt allem die Krone auf. Ein kunstvolles Lehrstückpendant zu Prokofjews Peter und der Wolf.
Nicht ganz so populär wurden Brittens Orchestervariationen über ein Weihnachtslied Men of Goodwill (1947). Eine Zwischenstellung zwischen Symphonie und Kantate nimmt die Spring Symphony (1949) für Soli, Chor und Orchester ein.
Hans-Klaus Jungheinrich

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.