Mein Vaterland, sechs symphonische Dichtungen

Zurück
t1 Konzertführer
Bedřich Smetana
Mein Vaterland, sechs symphonische Dichtungen

Die Idee, den Lauf der Moldau musikalisch zu schildern, reicht bis in das Jahr 1867 zurück; die zum Teil längeren Pausen zwischen der Arbeit an den einzelnen Partituren deuten schon an, dass Smetana ursprünglich noch nicht an einen Zyklus gedacht hatte. Die parallel entworfenen beiden ersten Teile Vyšehrad und Vltava arbeitete er im Herbst 1874 aus, unmittelbar nach der Ertaubung. Die beiden folgenden Werke, Šárka und Z českých luhū a hájū wurden im Februar bzw. Oktober 1875 vollendet. Erst damals tauchte für die – damals noch vier – Werke der gemeinsame Titel Vlast (Vaterland) auf. Erst nach dreijähriger Pause konnte der Komponist im Winter 1878/79 mit den beiden letzten Teilen, Tábor und Blaník, den Zyklus in der heutigen Gestalt abrunden. Diese beiden Partituren sind unter körperlichen Qualen einer versagenden Physis abgetrotzt, langsamer Kräfteverfall und zunehmende Konzentrationsschwäche lassen indessen keinerlei Erlahmen der Originalität und der schöpferischen Frische verspüren. Im Gegenteil: Der Komponist bewegt sich hier ganz in einer musikalischen Sprache, deren ureigenster Schöpfer er ist; die Ausdrucksintensität der Vorbilder ist eine Synthese mit den Wesenszügen der tschechischen Volksmusik eingegangen, die Smetana nirgends kopiert oder gar plagiiert hat. Die Formen der sechs Werke richten sich nach den Erfordernissen des jeweiligen Sujets, die Instrumentation hat den draufgängerischen, etwas lärmenden Zug des Wallenstein überwunden, ist von vollendeter Feinheit und Poesie. Die ‚Programme‘ hat der Komponist, gemeinsam mit dem befreundeten Dichter Václav Zeleny, selbst in Worte gefasst.

1. Vyšehrad
„Die Harfen der Barden bilden die Einleitung. Der Bardengesang weckt die Erinnerungen an die Vorzeit der Königsburg Vyšehrad, an ihre einstige Größe und ihren Glanz, an Turniere und Kämpfe, die sich in ihr und um sie abspielten und schließlich an ihren Verfall und Untergang. Die Komposition endet in elegischem Tone (Nachgesang der Barden).“
Eine thematische Gestalt wächst erst allmählich aus einzelnen, in verschiedenen Klangregistern vorgestellten Motiven, die dadurch sowohl für sich wie auch im Zusammenhang in Erinnerung bleiben. Dies ist wichtig, denn aus diesen wenigen Motiven und wenigen Ableitungen besteht die ganze musikalische Substanz des als monothematischer Sonatensatz gebauten Werkes – ein Verfahren von höchster Ökonomie und zugleich richtungweisend für den ganzen Zyklus.

2. Vltava (Moldau)
„Diese Komposition schildert den Lauf der Moldau. Sie belauscht ihre ersten beiden Quellen, die warme und die kalte Moldau, verfolgt dann die Vereinigung der beiden Bäche und den Lauf des Moldaustromes über die weiten Wiesen und Haine, durch Gegenden, wo die Bewohner gerade fröhliche Feste feiern. Im silbernen Mondlicht führen Nymphen ihre Reigen auf, stolze Burgen, Schlösser und ehrwürdige Ruinen, mit den wilden Felsen verwachsen, ziehen vorbei. Die Moldau schäumt und wirbelt in den Stromschnellen zu St. Johanni, strömt in breitem Flusse Prag zu, die Burg Vyšehrad taucht an ihrem Ufer auf. Die Moldau strebt majestätisch weiter, entschwindet schließlich den Blicken.“
Dieser bekannteste Teil des Zyklus ist als Rondo angelegt, dementsprechend lockerer, entspannter ist die Haltung der Musik im Vergleich zu Vyšehrad. Koppelung hoher Streicher mit den Holzbläsern verleihen dem Hauptthema zarten Glanz, während der tiefen Streicherregion die Wellenbewegung des strömenden Wassers anvertraut ist. Der Polka der ‚Bauernhochzeit‘ folgt der von feinsten Nuancen lebende ‚Nymphenreigen‘. Die Stromschnellen-Szene dagegen entfacht einen wahren Klangorkan, nach dessen Abflauen das Werk mit einer glänzenden Coda schließt, die Hauptthema und die beiden Kernmotive des Vyšehrad vereint.

3. Šárka
„In dieser Komposition ist nicht die Gegend festgehalten, sondern die Handlung, die Sage von der Maid Šárka, die in leidenschaftlichem Zorn über die Untreue des Geliebten dem ganzen männlichen Geschlecht bittere Rache schwört. Aus der Ferne dringt Waffenlärm. Ctirad ist mit seinen Knappen im Anmarsch, um die streitbaren Mädchen zu bezwingen und zu bestrafen. Er vernimmt schon von weitem das (nur listig vorgetäuschte) Klagen einer Maid, erblickte Šárka an einen Baum gebunden und ist von ihrer Schönheit bezaubert. Er entbrennt in heißer Leidenschaft zu ihr und befreit sie. Šárka versetzt mit einem bereitgehaltenen Trunke Ctirad und seine Knappen in Rausch und zuletzt in tiefen Schlaf. Auf ein gegebenes Hornsignal, das die Gefährtinnen Šárkas in der Feme erwidern, stürzen diese aus dem Wald und richten ein Blutbad an. Ein schauerliches Gemetzel, blindes Wüten der ihre Rache stillenden Šárka beschließt die Dichtung.“
Der Musikdramatiker meldet sich in dieser tschechischen Variante des Penthesilea-Stoffs zu Wort; das Original hat übrigens Hugo Wolf zu einer symphonischen Dichtung angeregt, die – wie Smetanas Šárka – unverkennbare Züge von Hysterie trägt. Allerdings liegt die Annahme nahe, der Böhme habe hier nicht nur die Verzweiflung seiner Titelheldin, sondern auch seine eigene in Musik gefasst. Ein heftig auffahrendes, seltsam zerrissen wirkendes Thema mit wütend abwärts schießenden Triolenläufen trägt musikalisch dieses im Wesentlichen als Variationsfolge angelegte Werk. Ungleich härtere Kontraste als in den beiden vorhergehenden Stücken kennzeichnen es: Auf die schwärmerische Emphase der Liebesszene folgt eine derbe, stampfende Polka von seltsam forcierter Ausgelassenheit; die geisterhaft fahle Überleitung mündet in die das Wüten und Rasen Šárkas mit erbarmungsloser Drastik schildernde Schlussszene (‚frenetico‘ als Ausdrucksbezeichnung!), die nach einer grellen Stretta abrupt abreißt.

4. Z českých luhū a hájū (Aus Böhmens Hain und Flur)
„Dieses symphonische Gedicht malt in weiten Zügen die Gedanken und Gefühle, die uns beim Anblick der böhmischen Landschaft erfassen. Aus dem weiten Umkreise dringt inniger Gesang zu unseren Ohren, alle Haine und die ganze blühende Flur singen ihre Weisen, fröhliche und melancholische. Sie alle kommen zu Worte, die tiefen dunklen Wälder – in den Hörnern – und die sonnigen, fruchtbaren Tiefebenen der Elbe und andere Teile des reichen, schönen Landes Böhmen. Ein jeder kann dieser Komposition die Erinnerung an das entnehmen, was er ins Herz geschlossen hat: Der Dichter hat freien Weg, er braucht sich nur an die Einzelheiten des Stücks zu halten.“
Naturbild voll Wärme und Poesie und zugleich Ausdruck einer Lebenshaltung, die Frohsinn wie Melancholie einschließt, ist dieses Werk. Wie dicht diese emotionalen Gegensätze benachbart sind, verraten die häufigen Umschläge des Tongeschlechts; auch die ausgedehnte Polka-Szene ist keineswegs frei von Wehmut. Formal ist das sich so leicht erschließende Werk recht kunstvoll: Ein Variationssatz über mehrere Themen, zu denen der flächig wirkende Beginn gehört – daraus entsteht das Polka-Thema.

5. Tábor
„Motto: Die ihr Gotteskämpfer seid! Auf diesen Choral baut sich die ganze Komposition auf. Im Hauptlager der Hussiten – in Tábor – erklang dieser Gesang sicherlich am mächtigsten und häufigsten. Die Komposition schildert die Entschlossenheit und Willenskraft der Hussiten, ihre zähen Kämpfe, ihre Unerschrockenheit, Ausdauer und feste Unnachgiebigkeit, die auch der Abschluss des sinfonischen Gedichts besonders betont. Die Komposition lässt sich nicht in Einzelheiten zerlegen, sie verherrlicht den Ruhm und die Größe der Hussiten und ihre Charakterstärke.“
Naturpoesie, Polka-Seeligkeit und zarte Melancholie haben bei einem so gearteten Sujet keinen Platz; stählerner Wille und monumentales Pathos prägen nicht nur den Ausdruck und die Gebärde des Werkes, sondern auch seine technische Seite: Ein monothematischer Sonatensatz, viel strenger gearbeitet als Vyšehrad. Das den gesamten Bau tragende Choral-Thema erwächst geradezu aus einem einzigen Ton (d), in den es am Schluss unter dem dröhnenden Stampfen des Tutti wieder zurückkehrt. Tábor ist der herbste Teil des Zyklus.

6. Blaník
„Schließt sich unmittelbar an den vorhergehenden Teil an. Nach ihrer Unterwerfung zogen sich die hussitischen Streiter in das Innere des Berges Blaník zurück, wo sie in tiefem Schlaf des Augenblicks harren, da von der bedrohten Heimat der Ruf an sie ergehen wird, zu deren Verteidigung wieder zu den Waffen zu greifen. Daher dienen die gleichen Motive, die in Tábor erklangen, auch im Blaník dem gesamten Aufbau als Grundlage, vor allem wieder der Choral: Die ihr Gottesstreiter seid. Auf der Basis dieser Melodie (des hussitischen Prinzips) entwickelt sich die Auferstehung der tschechischen Nation, erwächst ihr zukünftiges Glück, ihre kommende Größe! Diese siegreiche Hymne, zu der das ganze Volk aufmarschiert, beschließt die Komposition und damit die ganze Reihe der sinfonischen Gedichte Vaterland. Als kleines Intermezzo klingt in diesem Teil auch vorübergehend eine Idylle auf, wenn die Landschaft um den Berg Blaník herum kurz geschildert wird, ein Hirtenjunge bläst auf seiner Schalmei und das Echo im weiten Umkreis dessen Weisen zurückschickt.“
Eine Sonatensatzanlage, die Elemente des Rondos einschließt, dient dem Komponisten für den Schlussstein, der zugleich inhaltlich und formal als Synthese den vielgestaltigen Zyklus beschließt. Der Siegesmarsch erklingt zunächst – von Klarinetten, Fagotten und Hörnern pianissimo gespielt – wie aus weiter Feme, beinahe pastoral, wie der Ausdruck stillen Glücks; erst in einem gewaltigen Crescendo gewinnt er den triumphalen, missreißenden Ausdruck von Glanz, Größe und Begeisterung für alles, was Smetana hier in Tönen besungen hat. Choral-Thema, Vyšehrad-Motiv und Blaník-Marsch vereinen sich in der krönenden Coda. Die erste zyklische Aufführung der sechs Werke erfolgte am 5. November 1882; ihr triumphaler Erfolg vermochte indessen die tiefen Depressionen des schwerkranken Komponisten nur für kurze Zeit zu verdrängen. Immer noch versuchte Smetana zu komponieren, doch seine Kräfte begannen zu verlöschen. Von der 1883 begonnenen Suite Prager Karneval wurde nur noch der erste Satz, eine Polonaise mit Introduktion, beendet. Während des Winters verfiel Smetana zusehends; die schon lange geäußerte Angst vor dem Wahnsinn wurde Gewissheit: Nach einem Tobsuchtsanfall musste Smetana im April 1884 in ärztliches Gewahrsam nach Prag gegeben werden, wo er, der Schöpfer des tschechischen Nationalstils, am 12. Mai in geistiger Umnachtung starb.
Hartmut Becker

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.