Zweites Violinkonzert

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t1 Konzertführer
Béla Bartók
Zweites Violinkonzert

Vom August 1937 bis zum 31. Dezember des folgenden Jahres arbeitete Bartók an einer seiner letzten Kompositionen vor der Emigration in die Vereinigten Staaten, an dem großen (zweiten) Violinkonzert. Diesmal war der Auftrag nicht, wie im Fall des frühen Konzerts für Stefi Geyer, ein ‚innerer‘, sondern ein ‚äußerer‘: Der Violinvirtuose Zoltán Székely hatte es für sich bestellt und spielte auch die – übrigens auf Schallplatte festgehaltene – Uraufführung in Amsterdam mit dem Concertgebouw-Orchester unter Willem Mengelberg am 23. März 1939, bei der Bartók jedoch nicht anwesend sein konnte. Die kompositorische Idee, gegensätzliche musikalische Charaktere aus einem Grundmaterial heraus zu entwickeln, hatte Bartók ja bereits in seinem ersten Violinkonzert und den beiden Porträts op. 5 realisiert, aber jetzt ging es ihm um größere Verhältnisse. Die objektive Struktur der Musik sollte allein verantwortlich sein für die Variationskunst. Bereits die traditionelle Satzfolge verweist darauf, dass es Bartók in seinem großen Violinkonzert darum ging, sich in die Tradition der Gattung einzufügen; die Dreisätzigkeit, mit langsamem Mittelsatz, war vorgegeben, wenn sie Bartók auch ursprünglich noch gar nicht im Auge hatte. Ihm schwebte nämlich zunächst eine ganz neuartige, eben nicht der Konzerttradition verpflichtete variationsartige Form vor, als er den Auftrag von Székely erhielt. Wohl aus Gründen der Publikumswirksamkeit und vielleicht auch, um dem Konzert von vornherein ein gewisses Maß an ‚Klassizität‘ zu sichern, bestand der Auftraggeber auf der herkömmlichen Dreisätzigkeit. Bartók – auf der Höhe seiner Meisterschaft – gab indessen nur scheinbar nach, indem er zwar äußerlich den gewohnten Rahmen wahrte, aber unter dieser konventionellen Hülle dennoch seine ursprüngliche kompositorische Idee durchsetzte. Die Idee der permanenten Variation unterhöhlt gewissermaßen den äußeren Rahmen, denn die gewünschte Dreisätzigkeit bleibt bestehen, obwohl die Ecksätze insgesamt – und zwar bis in Details und in die Gliederung in je vierzehn Abschnitte hinein – Varianten ein und desselben Grundmaterials sind. Und der Mittelsatz gar ist selbst eine (übrigens bei Bartók einmalige) Folge von sechs Variationen über ein eigenes Thema, das nichts mit den Ecksätzen zu tun hat. Das kompositorische Prinzip der Variation wird also wirksam in der motivischen Detailarbeit und in der Gesamtform, denn der erste, vorwiegend kantable und melodisch ausströmende Satz erscheint im dritten völlig ins Tänzerische, ja sogar ‚Reißerische‘ übersetzt. Außerdem zollt Bartók in diesem Finale der erwarteten virtuosen Schlusswirkung seinen Tribut, ohne im mindesten von der dichten motivischen Arbeit abzulassen.

Ebenso wie Brahms mit dem Geiger Joseph Joachim, so arbeitete auch Bartók mit seinem Auftraggeber spieltechnische Details der Solostimme aus. Noch kurz vor der Uraufführung traf man sich in Paris, um die restlichen Fragen, vor allem auch zur Interpretation, zu klären. Die Amsterdamer Uraufführung kann von daher gesehen durchaus als ‚authentische‘ Darstellung des Werkes gelten. Die Führung der Solovioline verrät Bartóks intime, umfassende Kenntnis der Spieltechnik dieses Instruments. Doch mag Székely gerade bei der auskomponierten Solokadenz des ersten Satzes wertvolle Detailhinweise gegeben haben.

Bereits das Publikum der Uraufführung spürte unmittelbar die ‚klassische‘ Ausstrahlung des Werkes, aber in Fachkreisen meldete sich alsbald Skepsis und Unbehagen. Böse Zungen behaupten auch heute noch, mit dem (zweiten) Violinkonzert beginne Bartóks Wendung zu einem versöhnlichen, milden Spätstil. Tatsächlich befand sich Bartók jedoch auf der Suche nach einer Synthese seiner bisherigen kompositorischen Erfahrungen; er wollte das erreichen, was er zu dieser Zeit als „geniale Schlichtheit“ bezeichnete. Dichte musikalische Struktur sollte sich mit sinnlich einleuchtender Erscheinung verbinden in einer kompositorischen Dialektik fortschrittlicher Verfahren und traditioneller Momente. So ist etwa der erste Satz ein äußerst streng durchgeführter Konzertsatz in Sonatenform mit einer Fülle motivischer und kontrapunktischer Arbeit, während die melodische Erfindung in ihrer rhapsodisch wirkenden Freiheit des Gestus ein wirksames Gegengewicht dazu bildet. Der dritte Satz überführt dann diese Strenge in eine freie Rondoform.

Trotz gelegentlicher Romantizismen – entsprechende Horneinsätze oder das Einschwingen des G-dur-Klangs zu Beginn des Mittelsatzes – verfügt Bartók hier über eine große stilistische Vielfalt. Die drei Themen des ersten Satzes sind denn auch völlig verschieden im Charakter, ja, das Calmo-Thema ist sogar zwölftönig, aber nicht im Sinne der Schönberg‘schen Reihentechnik, sondern wie Bartók es selbst nannte, „eine Art von Zwölf-Ton-Thema, aber mit ausgesprochener Tonalität“. Die tonale Bindung war für Bartók unverzichtbar. Dort verlief für ihn die Grenze des musikalischen Fortschritts.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.