Zlatý kolovrat (Das goldene Spinnrad) op. 109

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t1 Konzertführer
Antonín Dvořák
Zlatý kolovrat (Das goldene Spinnrad) op. 109

Nach der Rückkehr aus Amerika schloss Antonín Dvořák sein symphonisches Oeuvre mit fünf in den Jahren 1896/97 geschriebenen programmatischen Werken ab, die zunächst wie eine Rückwendung zu den in den siebziger Jahren überwundene Tendenzen der Neudeutschen Schule wirken: Vier von ihnen entstanden nach Balladen aus der Sammlung Kytice (Blumenstrauß) des Dichters Karel Jaromír Erben (1811-1870), die alte Volksmärchen verarbeiten. Großbürgerlicher Bildungsanspruch und herrisch-auftrumpfendes Pathos eines Franz Liszt standen dem Komponisten allerdings denkbar fern, zu fern, um von Hinneigen zur Neudeutschen Schule i m eigentlichen Sinn sprechen zu dürfen. Alle fünf symphonischen Dichtungen (die Dvořák selbst als „Balladen“ betitelte) fordern einen größeren Apparat als die Symphonien, oft dreifache Holzbläser (mit Piccoloflöte, Englischhorn, Bassklarinette, Kontrafagott), gelegentlich zweite Basstuba, Harfe sowie umfangreiches Schlagzeug; der Umgang mit dieser reichen orchestralen Farbpalette ist von reifer Meisterschaft, führt – wie einige Werke Tschaikowskys – unmittelbar zu Klangphänomenen der frühen Moderne.

Zlatý kolovrat (Das goldene Spinnrad) op. 109 ist die Vertonung des Märchens von dem Mädchen Dornićka, das – in einer Hütte im Wald am Spinnrand sitzend – vom König zur Frau begehrt wird. Die Stiefmutter und deren Tochter töten und verstümmeln jedoch Dornićka auf dem Weg zum Schloss; dem König wird die Stiefschwester Dornićkas als Frau zugeführt. Dieser ahnt nicht den Betrug, vollzieht die Hochzeit und muss in den Krieg reiten. Ein Zauberer entdeckt im Wald den Leichnam des Mädchens, dem Augen, Arme und Beine fehlen. Er sendet seinen Knaben aufs Schloss, der der jungen Königin gegen menschliche Augen, Arme und Beine ein goldenes Spinnrad anbietet; diese geht bereitwillig auf den Tausch ein, worauf der Zauberer Dornićka zu neuem Leben erweckt. Der aus dem Krieg heimkehrende König bittet seine Frau, etwas auf dem goldenen Spinnrad zu spinnen – da entdeckt ihm eine Stimme aus diesem den Betrug und den Mord an Dornićka. Sofort reitet er in den Wald, findet dort seine wahre Geliebte und führt sie als Königin heim, während die Stiefmutter und deren Tochter von den Wölfen zerrissen werden. Die musikalische Gestaltung dieses Stoffs nahm Dvořák – der leichteren Verständlichkeit der Einzelheiten wegen – in enger Anlehnung an die Ballade Erbens vor; die Aneinanderreihung von Liedformen enthält durch die Rekapitulation der eröffnenden Abschnitte am Schluss des Werkes eine gewisse Geschlossenheit, die jedoch entschieden schwächer wirkt als in den mehr musikalisch autonom gestalteten vier anderen symphonischen Dichtungen. Der etwas mangelnden Übersicht beim Hören versuchte Josef Suk (Dvořáks Schwiegersohn, 1874-1935) durch einige Kürzungen abzuhelfen.

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.