Antonio Vivaldi

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t1 Konzertführer
Antonio Vivaldi
Antonio Vivaldi

Venedig, 4. März 1678 – Wien, 28.Juli 1741

Antonio Vivaldi war sich seines besonderen Wertes durchaus bewusst: Seine Sammlung von ‚Zwölf Concerti‘ für Violine, die der Amsterdamer Verleger Estienne Roger um 1714 als Opus IV veröffentlichte, trägt den Titel La stravaganza; ihr Komponist ist nicht einer von vielen, sondern der Meister des Außergewöhnlichen, Unerhörten, Elitären, eben ‚della stravaganza‘. Zwischen 1703 und 1740 – in der Zeit also, während der Vivaldi (von wenigen Unterbrechungen abgesehen) als ‚maestro di violino‘ und ‚maestro di concerti‘ am venezianischen Ospedale della Pieta tätig war – stand dieser Ruf in ganz Europa außer Frage. Die Amsterdamer Erstausgaben wurden in London und Paris nachgedruckt, in Versailles ließ sich Ludwig XV. das ‚Primavera‘-Konzert vorspielen, in Berlin stand Johann Joachim Quantz unter dem Einfluss der „Vivaldischen Violinenconcerte, die als eine damals ganz neue Art von musikalischen Stücken, bey mir einen nicht geringen Eindruck machten“, in Leipzig adaptierte Johann Sebastian Bach den Konzerttypus des Venezianers und bearbeitete mehrere seiner Concerti für Orgel oder Cembalo, in Dresden fertigte der Böhme Jan Dismas Zelenka Abschriften Vivaldischer Partituren an. Wenn der Komponist trotz dieser Erfolge nur relativ wenige Werke zum Druck freigab, so hatte das seinen guten Grund: „Vivaldi sagte mir, er sei entschlossen, keine Concerti mehr zu veröffentlichen, da ihn dies daran hindere, seine Kompositionen im Manuskript zu verkaufen, was er für sehr viel einträglicher hält“ (Edward Holdsworth). Außerdem blieb in jener Zeit, die von Urheberrechtsschutz noch nichts wusste, nur ein nicht gedrucktes Werk exklusiv dem Komponisten vorbehalten. So ist von den rund 330 (bis heute bekannten) Concerti Vivaldis für eine oder mehrere Violinen nur ein knappes Viertel zu seinen Lebzeiten veröffentlicht worden. Den Anfang machen 1711 die ‚Zwölf Concerti‘ für verschiedene Besetzungen, die Estienne Roger mit dem Titel L 'Estro armonico unter der Opuszahl III zusammenfasst. Vivaldis ‚harmonische Laune‘ – so etwa wäre der Titel zu verstehen – hat Meisterwerke hervorgebracht, deren Rang der Komponist freilich im Vorwort der Ausgabe in zeittypischem Understatement verschweigt: „Die wohlwollende Nachsicht, mit welcher die Musikliebhaber meinen bisherigen Versuchen begegnet sind, haben mich bestrebt sein lassen, auch mit einer Sammlung von Instrumentalkonzerten zu gefallen.“ Die Sammlung gefiel – mehr noch, sie wurde geradezu ein Sensationserfolg: Nicht nur Rogers Ausgabe erschien in mehreren Auflagen, sondern auch die Nachdrucke von Walsh (London) und LeClerc le Cadet (Paris), und allein Bach hat sechs der Estro armonico-Concerti bearbeitet.

Die ‚Zwölf Concerti‘ lassen sich in vier, jeweils drei Werke umfassende Gruppen gliedern, von denen jede dieselbe Abfolge hat: ein Concerto für vier Violinen, eines für zwei und schließlich eines für Solovioline; bei den Concerti Nr. 2, 7, 10 und 11 kommt noch ein quasi-solistisches Violoncello hinzu. Die Begleitung ist durchweg für Streicher und Basso continuo (Cembalo) gesetzt. Acht der Concerti sind in der dreisätzigen Anlage schnell-langsam-schnell (mit dem Wechsel von – in der Regel – vier oder fünf Tuttiritornellen und drei oder vier Soloabschnitten) charakteristische Beispiele des (venezianischen) Solokonzerts, das Vivaldi gewissermaßen ‚erfunden‘ hat. In den anderen Concerti ist das viersätzige Modell der Kirchensonate bzw. des Concerto grosso zwar noch rudimentär zu erkennen, doch im Wesentlichen hat Vivaldi auch hier schon die Tradition Corellis und anderer Komponisten des 17. Jahrhunderts verlassen.

Der ‚Prototyp‘ des Concertos geht ‚in Serie‘: 1714 folgt La stravaganza (Opus IV), zwischen 1716 und 1721 die Sammlungen Opus VI (mit nur sechs Concerti) und Opus VII (mit zehn Concerti für Violine und zwei für Oboe), 1725 II cimento dell'armonia e dell'invenzione (Die Erprobung der Harmonie und der Erfindung, Opus VIII, mit den vier ‚Jahreszeiten‘-Konzerten und drei weiteren ‚Concerti con titoli‘), 1727 La cetra (Die Lyra, Opus IX), um 1728 die sechs Concerti des Opus X, in denen Vivaldi das Modell seiner Concerti für Violine auf die Querflöte überträgt, 1729 schließlich die beiden jeweils sechs Werke umfassenden Sammlungen Opus Xl und XII. Und das ist, wie gesagt, nur die veröffentlichte Spitze eines Eisbergs, der unter der Wasserlinie die Manuskripte von rund 400 weiteren Concerti für verschiedene Solo- und Tuttibesetzungen verbirgt! (Hinzu kommt, dass in Bibliotheken und Sammlungen Jahr für Jahr neue Vivaldiana auftauchen und eine ständige Aktualisierung des Werkverzeichnisses fordern...) „Vivaldi wird sehr überschätzt, ein langweiliger Mensch, der ein und dasselbe Konzert sechshundertmal hintereinander komponieren konnte“, lästerte Igor Strawinsky.

Hätte aber Strawinsky (der notabene nur einen Bruchteil des Vivaldi‘schen Oeuvres gekannt haben kann) recht, so wäre der Komponist kaum über eine Zeit von nahezu vier Jahrzehnten hinweg der ‚maestro assoluto‘ des venezianischen Musiklebens gewesen, dessen Werke an erster Stelle in der Gunst des Publikums standen – eines Publikums wohlgemerkt, das vor allem unterhalten sein wollte und es einem Komponisten nie verziehen hätte, ihm auch nur zweimal hintereinander dasselbe Konzert vorgesetzt zu haben (ganz zu schweigen von „sechshundertmal“...). Nein, Vivaldi musste den einmal ausgeformten Konzerttypus in immer neuem Gewand, mit immer neuen Varianten präsentieren, um neben Albinoni, Marcello, Torelli ‚e tutti quanti‘ bestehen zu können.

Eine Möglichkeit der Variation boten Programmkonzerte, die sogenannten ‚Concerti con titoli‘. Dazu gehören die vier ‚Jahreszeiten‘-Konzerte (Opus VIII Nr. 1-4), die Vivaldi in Mantua als Kapellmeister des Landgrafen Philipp von Hessen-Darmstadt komponiert und durch vier selbstverfasste Sonette eingeleitet hat; weiter – ebenfalls aus Opus VIII – die Concerti ‚II piacere‘ (‚Das Gefallen‘) und ‚La caccia‘ (‚Die Jagd‘) sowie aus dem Opus X die Concerti ‚La notte‘ (‚Die Nacht‘) und ‚II gardellino‘ (‚Der Distelfink‘). Außerdem findet sich sowohl in der einen wie in der anderen Sammlung ein Concerto mit dem Titel ‚La tempesta di mare‘ (‚Der Seesturm‘), und eine ganze Reihe nicht veröffentlichter Concerti ist ebenfalls mit programmatischen Titeln versehen. Doch auch die Imitation von Vogelstimmen, Jagdhörnern und Stürmen oder sogar die musikalische Gestaltung von Alpträumen (in dem ‚Fantasmi‘ überschriebenen zweiten Satz des Concertos ‚La notte‘) hätte sich als Effekt bald abgenutzt und kaum den dauernden Ruhm des Komponisten begründet, wenn nicht Vivaldi mit nie versiegendem Einfallsreichtum auch dem musikimmanenten Gerüst des Solokonzerts ständig neue Farben und Formen verliehen hätte. Die erstaunliche Virtuosität der Solopartien, die gelegentlich in regelrechten Kadenzen (mit dem ausdrücklichen Hinweis: „Hier mache man nach Belieben halt“) gipfeln, lässt von lyrischer Innigkeit bis zu wilder Chromatik alle denkbaren Affekte zu; die spieltechnischen Möglichkeiten und der Tonraum der Violine werden bis hinauf zur viergestrichenen Oktave ausgenutzt. Und da Melodik und Figuration im Wesentlichen auf Akkordbrechungen beruhen, greift Vivaldi in einigen Fällen auf das Verfahren der Skordatur zurück – auf das Umstimmen der vier Saiten –, um die natürlichen Grenzen des Instruments zu überwinden. In den ‚Sechs Concerti‘ des Opus X, bei denen es sich zum Teil um Bearbeitungen früherer Werke handelt, hat Vivaldi die Violintechnik überaus wirkungsvoll auf die Querflöte übertragen, so wie auch die Solopartien der 23 Oboen- und der 39 Fagottkonzerte manche Eigenarten geigerischer Praxis aufweisen. Ebenso abwechslungsreich sind die Ritornelle der Concerti gestaltet: dynamische Schattierungen, harmonische Farbigkeit, Pizzicato- und Sordinoeffekte, wechselnde Kombinationen des Tuttis und die Befreiung der Bassstimmen von ihrer bloß begleitenden Continuofunktion geben jedem der Concerti Vivaldis sein eigenes Gesicht. Letztlich musste aber auch Vivaldi einem neuen Stil weichen, und sein Tod in Wien – am 28. Juli 1741 – war dem venezianischen Chronisten Pietro Gradenigo nur mehr eine kurze Notiz wert:
„Der geistliche Herr Antonio Vivaldi, unvergleichlicher Geiger und höchst angesehen wegen seiner Opern und Concerti, ist arm in Wien verstorben.“ Fast zweihundert Jahre lang war der Name Vivaldi nur eine musikgeschichtliche Marginalie, seine Musik lebte nur in den Bearbeitungen Bachs weiter. Erst die abenteuerliche und spektakuläre Wiederentdeckung von vierzehn Bänden mit Werken Vivaldis im Jahre 1926 schafft die Grundlage einer Renaissance, die bis heute andauert.

Michael Stegemann

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.