Symphonie Nr. 9 d-moll

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t1 Konzertführer
Anton Bruckner
Symphonie Nr. 9 d-moll

Obwohl Anton Bruckner fast ein ganzes Jahrzehnt – vom 21. September 1887 bis zu seinem Tod am 11. Oktober 1896 – an seiner neunten Symphonie arbeitete, konnte er sie nicht mehr vollenden. Mehr als sieben Jahre, bis zum 30. November 1894, benötigte er davon zur Komposition der ersten drei Sätze; die verbleibenden zwei Lebensjahre reichten dann nicht mehr aus, um den gewaltigen Schlusssatz einer Symphonie, die er, resignierend und hoffend zugleich, „dem lieben Gott“ gewidmet hatte, noch in endgültige Gestalt zu bringen. Die von vielen vertretene Ansicht, Bruckner hätte in Vorahnung seines nahen Todes bereits nach dem Adagio, das er selbst für das schönste hielt, das er je geschrieben habe, seine Neunte als beendet betrachtet, um so (wie etwa auch Tschaikowsky) sein Lebenswerk mit einer langsamen, verklärenden Musik abzuschließen, lässt sich aber dennoch nicht aufrechterhalten. Mit Bruckners konservativen Formvorstellungen wäre eine solche Lösung unvereinbar gewesen. Außerdem arbeitete er buchstäblich bis zur letzten Stunde mit großer Anstrengung am Finale. Sein Vorschlag, notfalls das Te deum aus dem Jahre 1884 als Schlusssatz zu spielen, zeigt deutlich, dass er das Werk so nicht für abgeschlossen hielt.
Dass diese Symphonie aber auch in ihrem Unvollendetsein noch wie eine mächtige Einheit erscheint, dabei selbst den Vergleich mit ihrer vollendeten gigantischen Vorgängerin, der Achten, nicht zu scheuen braucht, liegt aber nicht allein daran, dass sie auch als Fragment unbestreitbar den Höhepunkt seines Schaffens darstellt, sondern insbesondere daran, dass das (wie in der achten Symphonie) an dritter Stelle stehende Adagio sowohl in Ausdrucksgehalt als auch in kompositorischer Dichte und Kühnheit ein gleichwertiges Gegenüber zum monumentalen Kopfsatz bildet. Dazwischen ein Scherzo, das wohl das seltsamste und zugleich fortschrittlichste Stück Musik ist, das Bruckner geschrieben hat: eine phantastisch-realistische Vorschau auf das 20. Jahrhundert.

Ein eigenartiges Merkmal der drei Sätze dieser Symphonie (und damit auch ihres fragmentarischen Charakters) ist, dass die Grundtonart d-moll eigentlich nirgends deutlich bestätigt wird. Das Adagio pendelt zwischen den entfernten Tonarten E-dur und As-dur, das Trio des zweiten Satzes ist gar in Fis-dur, also noch weiter entfernt, angesiedelt, während im Kopfsatz im Bereich des Hauptthemas Unisono und leere D-Klänge dominieren, sodass der eigentliche, warme Charakter ‚gefüllter‘ d-moll-Klänge im ganzen Werk nicht zur Geltung kommt. Selbst an seiner ureigensten Stelle, an jenem Platz, der sonst die Grundtonart der Symphonie bestimmt, am Schluss des Kopfsatzes nämlich, entbehrt der Grundklang eines Tongeschlechts: es erklingt ein leerer D-Klang. Dadurch verliert diese Tonart ihren menschlichen Charakter, den sie im traditionellen Tonartenkreis (bei Mozart und Schubert und selbst noch bei Beethoven) als jene des Todes, des menschlich erfüllten Sterben-Müssens innehatte, sie klingt vielmehr hohl und entseelt. Deshalb stellt das Hauptthema auch nicht einen menschlichen Tod in Aussicht, sondern es droht die totale Vernichtung des Lebens durch elementare Naturkräfte von kosmischer Dimension. Von allen Symphonikern des 19. Jahrhunderts hat Bruckner am radikalsten die Situation des auf sich geworfenen partikularen Individuums in Musik gesetzt, welche bestimmt ist durch Entfremdung, Isolation und der Unvereinbarkeit von Innen- und Außenleben. In sehr plastischer Weise ist dies in den drei Themen des Kopfsatzes eingefangen, die die innere Zerrissenheit des Menschen dokumentieren. Das brutale Unisono des Hauptthemas steht für eine soziale Ohnmacht, das Ausgeliefertsein an undurchschaubar über ihm waltende Mächte, während das zweite Thema schmerzlich-sehnsüchtiger Ausdruck ist des unerfüllten Liebesbedürfnisses. Einen Ausweg daraus glaubt Bruckner nur noch in einer gedanklichen Schein-Welt zu finden, in der illusionär anmutenden Vorstellung eines pastoral-befriedeten, antizivilisatorischen Naturidylls im dritten Thema.

Das Adagio befasst sich noch einmal ganz ausführlich mit den inneren Auswirkungen der sozialen Vereinzelung, es beschreibt eindringlich das unendliche Streben nach Licht in einem vom Dunkel umgebenen Dasein. Dieses bohrend vorwärtsdrängende Gefühl, diese Erlösungssehnsucht, ist im Kleinen selbst im Hauptthema enthalten, das auf engstem Raum (in nur sieben Takten) Welten durchmisst, vom ‚tristanisch‘ abwärts gerichteten Dunkel des Anfangs plötzlich umschlägt in eine helle, klare, diatonisch-optimistische Bewegung, um endlich in ein strahlendes E-dur zu münden. Die verschiedenen Schattierungen von Leid, Schmerz, Sehnsucht und Resignation bestimmen aber nicht nur die beiden äußerst eindringlichen Hauptthemen, sondern auch eine Reihe von Nebengedanken und Assoziationen aus früheren Symphonien, deren Häufung am Ende des Adagios wie ein letztes Rückbesinnen Bruckners auf sich selbst wirkt.

Das unfreiwillig ins Zentrum des Werkes geratene Scherzo dagegen steht nicht nur völlig quer zu den Ecksätzen, sondern ist überhaupt einer der uneigentlichsten Sätze Bruckners, wenn nicht der ausgefallenste überhaupt. Hier entpuppt sich der Siebzigjährige plötzlich als purer Realist, der voll bitterer Ironie das künftige Jahrhundert anvisiert. Ohne Spur von Verklärung und Mystik, vielmehr verzerrt und verfremdet dröhnt uns da eine neue Welt entgegen – mit Maschinenlärm und aufstampfenden Dampfhämmern, die jeden menschlichen Laut ersticken. Daneben wirkt die kleine pastorale Oboenmelodie wie ein Stück verlorene Vergangenheit, wie eine verblassende Erinnerung an die besinnliche Fröhlichkeit der Beethoven‘schen Pastorale. Auch hier weiß nur noch die Phantasie einen Ausweg, in die wirklich phantastisch-irreale, weit entfernte (Fis-dur!), elfenartige Welt des Trios, das wie ein „Luftgebilde“, eine „Fata Morgana“ (Max Auer) an uns vorbeihuscht. Das Sehnen nach unbeschwertem, befriedetem Zusammenleben findet jetzt nur noch in der Vorstellung ein Zuhause.
Attila Csampai

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.