Symphonie Nr. 8 c-moll

Zurück
t1 Konzertführer
Anton Bruckner
Symphonie Nr. 8 c-moll

Die achte Symphonie ist nicht nur Bruckners gewaltigste, sondern auch diejenige, die ihn in die tiefste Depression seines Lebens stürzte, denn als er die soeben vollendete (erste Fassung der) Symphonie am 19. September 1887 an den Dirigenten Hermann Levi geschickt hatte in der Hoffnung, dieser werde die neue Symphonie ebenso zum Durchbruch des Symphonikers Bruckner bringen wie seinerzeit bei der triumphalen Münchner Erstaufführung die Symphonie Nr. 7, kam es zur Katastrophe: Levi hatte nämlich mit der Partitur unüberwindliche Schwierigkeiten, glaubte unzulässige Parallelen im Aufbau zur vorhergegangenen Symphonie entdecken zu müssen, beklagte auch das „fast Schablonenmäßige der Form“, lobte zwar den Anfang des ersten Satzes – dieser sei einfach „grandios“ –, wusste aber wieder mit dessen Durchführung nichts anzufangen und scheiterte vor allem an den ungeheuren und ungewöhnlichen geistigen Ansprüchen des Finales, das ihm wie ein „verschlossenes Buch“ erschien, kurz, er wollte das Werk nicht dirigieren. Josef Schalk, an den er sich deshalb gewandt hatte, oblag nun die höchst unangenehme Aufgabe, Bruckner davon in Kenntnis zu setzen. Die weiteren Vorgänge, die schließlich zur Abfassung einer zweiten Werkkonzeption, abgeschlossen am 10. März 1890, führten, bieten dem eindringenden Betrachter ein verwirrendes Bild von widersprüchlichen Fakten und unklaren psychologischen Implikationen – es fehlen dokumentarische Belege über Bruckners Geisteszustand insgesamt –, dessen Hintergründe wohl niemals restlos aufgeklärt werden können. Fest steht nur, dass Bruckner sich unverzüglich, spätestens jedenfalls im Winter 1887/88, daranmachte, die Umarbeitung im Sinne seines „künstlerischen Vaters“ – so bezeichnete er Levi, aus Respekt vor den Praktikern des Musiklebens überhaupt – auszuführen, „nach Ihrem Rat“, wie es Schalk an Levi beruhigt schrieb. Bereits am 27. Februar 1888 konnte Bruckner an Levi melden: „Freilich habe ich Ursache, mich zu schämen – wenigstens für dieses Mal – wegen der 8. Ich Esel! Jetzt sieht sie schon anders aus.“ Die im Oktober 1890 an Levi gesandte neue Partitur war tatsächlich eine zweite Werkfassung geworden, doch damit beginnen auch die ästhetischen Zweifel, ob es denn wirklich die bessere sei. Ihre Uraufführung am 18. Dezember 1892 in Wien, immerhin mit den Wiener Philharmonikern unter Hans Richter, scheint das nahezulegen, denn der Eindruck war überwältigend. Hugo Wolf schrieb damals die Worte: „Diese Symphonie ist die Schöpfung eines Giganten und überragt an geistiger Dimension, an Fruchtbarkeit und Größe alle anderen Symphonien des Meisters. [...] Es war ein vollständiger Sieg des Lichtes über die Finsternis, und wie mit elementarer Gewalt brach der Sturm der Begeisterung aus, als die einzelnen Sätze verklungen waren.“

Doch wie steht es mit den zahlreichen Kürzungen, die Bruckner im Finale vorgenommen hatte? Vergleicht man die Partituren der beiden Fassungen miteinander, was ja heute mit Leichtigkeit möglich ist, da sie beide im Rahmen der zweiten Gesamtausgabe veröffentlicht worden sind, dann stellt sich heraus, dass keine eindeutige Entscheidung für die eine oder die andere Fassung getroffen werden kann. Den drakonischen und ästhetisch äußerst fragwürdigen Strichen im Finale stehen zahlreiche Neukompositionen größerer Abschnitte des ersten Satzes (Durchführung, Coda), des gesamten Trios und Teilen des Scherzos und vor allem die gänzlich einleuchtende neue Werkidee des ersten Satzes gegenüber, sodass sich Robert Haas, der (heute verfemte) Herausgeber der ersten Gesamtausgabe, auf deren wesentlichen Ergebnissen übrigens die zweite fußt, sich gedrängt fühlte, die beiden Fassungen in einer Art ‚Idealfassung‘ zu vereinigen, was heute die französische Bruckner-Forschung (etwa Paul-Gilbert Langevin) als „schöpferische“ Musikwissenschaft rühmt und propagiert. Das Vorgehen von Haas ist zwar philologisch durchaus anfechtbar, aber was besagt schon Philologie im Fall Bruckners? Hat doch der Komponist selbst an den Dirigenten Felix Weingartner am 27. Januar 1891 geschrieben: „Wie geht es der achten? Haben Sie schon Proben gehabt? Wie klingt sie? Bitte sehr, das Finale so wie es angezeigt ist, fest zu kürzen; denn es wäre viel zu lange und gilt nur späteren Zeiten, und zwar für einen Kreis von Freunden und Kennern“ (Hervorhebungen von mir; D. H.). Hier muss demnach der Komponist Bruckner vor dem Pragmatiker verteidigt werden. Die Debatten um eine spielbare und vor allem ästhetisch vertretbare Fassung sind noch keineswegs abgeschlossen, wenn auch die zweite Gesamtausgabe durch das getrennte Vorlegen der beiden Partituren philologisch ein Machtwort bereits gesprochen hat. Die Ausgabe von Haas spielt dabei gewissermaßen die Rolle des Schiedsrichters zwischen den Fassungen, da sie die Vorzüge der ersten mit den glücklichen Neukompositionen der zweiten überzeugend verbindet.

Die innere Dramaturgie der achten Symphonie kommt allerdings in der zweiten Fassung unzweifelhaft besser zum Tragen: Die erste Fassung deutete das nur in der Umstellung der Mittelsätze an – dies ein erstmaliger Fall, der sich in der letzten Symphonie wiederholen wird –, während Bruckner in der zweiten Fassung darüber hinaus den Charakter des Kopfsatzes als eines ‚vorläufigen‘, freilich gewichtigen Einstiegs in die unfassbaren Dimensionen der Werkkonzeption insgesamt (mit dem größten Finale, das Bruckner jemals vollendet hat) noch dadurch ausdrücklich betont, dass er ihn am Schluss in die Stille zurückfallen, ja regelrecht zerfallen lässt. Auch das ist ein einmaliges Ereignis in Bruckners Symphonik und allein von daher der besonderen Aufmerksamkeit würdig. In der ersten Fassung schloss der Satz, nach diesem Zerbröckeln, mit einer jener dröhnenden Klangflächen ab, die sehr typisch sind für Bruckner‘sche Satzschlüsse. Das Hauptthema tritt hier denn auch triumphal in Augmentation auf. Das steht aber der inneren Dramaturgie der gesamten Symphonie entgegen, deren absolute Höhepunkte im Adagio und am Schluss des Finales liegen. Deshalb war es eine geniale Formidee Bruckners, in der zweiten Fassung den Kopfsatz verlöschen zu lassen. Die Triumphgeste in der ersten Fassung wirkt nach dem auskomponierten Zerfall wie aufgesetzt, wenn man will: schematisch. Ob Bruckner das auch gespürt hätte, wenn ihm nicht die Kritik Levis zugetragen worden wäre?
Bruckner war sich der Ansprüche, die er in der achten Symphonie an alle Beteiligten stellt, völlig bewusst, wenn er sagte: „Meine Achte ist ein Mysterium.“ Seine absonderlichen „Erklärungen“ vom „deutschen Michel“ etwa, der durch Scherzo und Finale geistere, während Bruckner andernorts „erläuterte“, das bockige, barockisierende Hauptthema des Scherzos – eine Bassfigur aus der Generalbassmusik – charakterisiere seinen Freund Almeroth (!), und die Rede von der „Todverkündung“ im ersten Satz (bei Buchstabe V) und dem Erklingen der „Totenuhr“ (Coda) – Bruckner:

„Dös is so, wie wenn einer im Sterben liegt, und gegenüber hängt die Uhr, die, während sein Leben zu Ende geht, immer gleichmäßig fortschlägt: tik, tak, tik, tak...“ – oder gar von dem Drei-Kaiser-Treffen in Skiernewice bei Brünn, das der Beginn des freilich wirklich furchterregenden Finales meine und von dem Anlass des Adagios – er habe „einem Mädchen tief in die Augen geblickt“ (!) –, sind allesamt mit Vorsicht zu genießen. Denn es sind doch nur – der Mode der Zeit entsprechende – Versuche, den naturgemäß ungegenständlichen Inhalt der Musik dem konkretisierungsbedürftigen Alltagsverstand nahezubringen. Was in dieser Musik denn auch zum Klingen kommt, und die achte Symphonie ist Bruckners umfangreichste und inhaltlich weitgespannteste, sind solche Abgründe, dass die Rede vom „Mysterium“ angebracht erscheint.

Welche emotionalen Spannungen sich hinter dem scheinbar so harmlosen, bürgerlichen Menschen Bruckner verbergen und vom Komponisten ohne Zensur durch die Musik hindurch preisgegeben werden, das macht in bestürzender Deutlichkeit und Sinnfälligkeit ein Werk wie gerade die achte Symphonie erfahrbar: Bereits das zuckende, ja lauernde Hauptthema des ersten Satzes, gleichsam ein sich regendes Ungeheuer, verheißt die riesigen Dimensionen, die der weitere Ablauf der gesamten Symphonie dann auch tatsächlich einlöst. Und der emotionale Weg führt über die trotzig-starrköpfige Beschränktheit des Scherzo-Themas, die Flucht in erträumte Ferne (Trio) und das Bewusstsein von Entfremdung und Isolation (Adagio-Monolog) bis hin zum ohnmächtigen Aufbegehren des Finales (Anfang) und seines höchsten Gipfels, der den Höhepunkt des Adagios, den Durchbruch in einen visionären Freiraum dort, noch übertrifft und so die Symphonie als neuen Entwurf einer Final-Symphonie (nach der Fünften) erklärt: durch die Beschwörung einer ganz zu sich selbst gekommenen Musik am Ende, in der Vereinigung der Hauptthemen aller vier Sätze (!), einem Triumph der ‚metaphorischen‘ Satztechnik Bruckners.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.