Symphonie Nr. 6 A-dur

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t1 Konzertführer
Anton Bruckner
Symphonie Nr. 6 A-dur

Die sechste Symphonie Bruckners entstand in den Jahren 1879 bis 1881; 1883 wurden die beiden Mittelsätze mit geringer Resonanz in Wien uraufgeführt, Gustav Mahler dirigierte 1899, also nach Bruckners Tod, zum ersten Mal, ebenfalls in Wien, die gesamte Symphonie, wobei allerdings wiederum Kürzungen vorgenommen wurden. Erst 1901 kam sie in Stuttgart in voller Länge zur Aufführung. Bruckner selbst ersparte dem Werk die Umarbeitungen, die er in den früheren Symphonien so oft vornahm. Die sechste Symphonie ist reduzierter in den Mitteln als die Kompositionen ihrer Umgebung, sie ist in gewissem Maße kammermusikalischer gedacht, was ihr – völlig zu Unrecht – eine gewisse Zurückstellung einbrachte. Bruckner bezeichnete, sicher nicht nur des lapidaren Reimes wegen, seine sechste Symphonie als seine „keckste“. In der Tat gehört sie zu den avantgardistischsten Ansätzen im kompositorischen Schaffen Bruckners.

Die sechste Symphonie beginnt unruhiger als alle anderen Symphonien Bruckners. Zwar wird auch hier das Prinzip der Vorgabe einer Klangfläche, aus der sich dann thematisches Material löst, durchgehalten, doch es waltet nicht die Ruhe, in der sich, dem Schöpfungsprozess ähnlich, die Kräfte zu formieren beginnen. Sie sind hier gleichsam schon a priori zugegen als gestaute Energie. Die Violinen beginnen mit einem angespannt punktierten Rhythmus auf dem Ton cis. Dieser Ton stellt sich im Folgenden dann auch nicht als tragender Grundton heraus, wie das bei den meisten Symphonien Bruckners der Fall ist, sondern als Terz der Haupttonart A-dur. So ist schon beim ersten Ton eine ganz eigentümliche Unruhe auszumachen, die aus der bewussten Setzung von Tonhöhe (nicht Grundton) und Rhythmus (keine gleichmäßige Fläche) erwächst. Die Dialektik von Unruhe und gestauter Kraft wirkt dann schlüssig fort auf die Themenbildung; das Hauptthema des ersten Satzes gehört wohl zu den kraftvollsten Einfällen Bruckners überhaupt. Zum einen stellt die ‚maestoso‘ vorgetragene Bassquinte e-a zum pochenden cis die ‚Absättigung‘ des Hauptdreiklangs A-dur dar, doch schon die Fortsetzung verlässt kirchentonal (phrygisches A-dur) den eben konsolidierten Tonartenraum (durch die Töne g, b und f). Die Dialektik zwischen Bekräftigung und Verunsicherung, wie sie auf filigrane Art in dieser Themenaufstellung ausgebildet ist, bestimmt den Grundcharakter des ganzen Werkes. Bruckners kompositorisches Denken erweist sich hier gewissermaßen als analytisch, die einzelnen ‚Parameter‘ (zum Beispiel Rhythmus, Tonhöhe, Motivbildung oder tonartliche Kraftlinien) werden selektiv behandelt und jeder für sich nach innewohnenden Spannungsmöglichkeiten zwischen Ruhe und Dynamik befragt. Dies aber weist voraus auf kompositorische Verfahren, die erst im 20. Jahrhundert größere Bedeutung erlangten.

Verblüffend wirkt, wie Bruckner diese im Anfangsthema aufgestellten Kräfteverhältnisse über die ganze Symphonie hinwirken lässt. Die Mittelsätze, ein Adagio mit der Zusatzbezeichnung „sehr feierlich“ und ein Scherzo „ruhig bewegt“, richten sich nach dem im ersten Satz Vorgegebenen aus. Auch hier sind gleichsam Irritationen eingebaut. So erhält der getragene Charakter des langsamen Satzes (zunächst in den Streichern) einen unruhig punktierten Kontrapunkt in der Oboe, der schon auf Motive des Finales vorausweist. Wieder also die Dialektik von Bekräftigung und Verstörung, die sich auch in der völlig ‚unscherzohaften‘ Aufgebrochenheit des dritten Satzes fortsetzt. Die Musik scheint hier in Distanz zu sich selbst zu stehen, auch das flüchtig anzitierte Hauptthema der fünften Symphonie zu Beginn des Trios deutet auf die Uneigentlichkeit der Anlage. Es scheint, als versichere sich der sehr filigrane kammermusikalisch gearbeitete Scherzo-Satz seiner symphonischen Möglichkeiten.
Die über drei Sätze ausgebreitete Anspannung löst sich im Finale. Doch auch hier wird der kompositorische Akt distanzschaffend bewusstgemacht. Nach bedächtigem Anheben wird ‚zu schnell‘ ein Durchbruch angesteuert, der in dreifachem Forte in großer Dreiklangsfläche erklingt. Dann aber scheint sich die Musik an den widersprüchlichen Ausgangspunkt zurückzuerinnern, die heterogenen Motive des Beginns werden neu erarbeitet. Stückhaft setzen sie sich zusammen, durch ein Zurechtrücken der thematischen Gestalt in den Bereich eines reinen A-dur (das Ausbrechen daraus setzte ja wesentlich den Anfangswiderspruch) ist Lösung möglich, im ‚stimmig bereinigten‘ Klang wirken zugleich die Kräfte als eingeschlossene fort. Die Musik greift zu ihrem Ausgangspunkt zurück und hebt ihn ‚lösend‘ im Sinne des Wortes auf.
Reinhard Schulz

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.