Symphonie Nr. 0 d-moll

Zurück
t1 Konzertführer
Anton Bruckner
Symphonie Nr. 0 d-moll

(erste Fassung: um 1864; zweite Fassung: 1869)
Die kuriose Bezeichnung stammt von Bruckner selbst. Als er kurz vor seinem Tod bei der Durchsicht seiner alten Manuskripte auf die d-moll-Symphonie stieß, wollte er sie zwar nicht vernichten, aber auch nicht in die Reihe der offiziellen Symphonien eingliedern. Deshalb konnte keine Nummer für sie in Betracht kommen, obwohl Bruckner die Symphonie durchaus „historisch richtig einzureihen“ (August Göllerich) beabsichtigte. So kam es eben zu der heute bekannten Bezeichnung. Im Gegensatz zu der Symphonie in f-moll hält sich die d-moll-Symphonie in knapperen Dimensionen, ja, ihr langsamer Satz fällt sogar in mancher Hinsicht hinter den früheren zurück, weshalb die zweite, als einzige überlieferte Fassung offensichtlich in den Mittelsätzen die frühere und in den Außensätzen die spätere Ausarbeitung repräsentieren dürfte. Wie dem auch sei, Bruckner entschloss sich jedenfalls, nachdem er im Herbst 1868 als Professor für Kontrapunkt ans Wiener Konservatorium berufen worden und deshalb nach Wien umgesiedelt war, die Symphonie umzuarbeiten, obwohl es dort (und auch sonst zu Bruckners Lebzeiten) zu keiner Aufführung kam. Wie die f-moll-Symphonie, so wurde auch die ‚Nullte‘ erst im letzten Jahrhundert überhaupt uraufgeführt (Klosterneuburg, 12. Oktober 1924). Ähnliches gilt für die Frühfassungen der dritten, vierten und achten Symphonie. Auch daran zeigt sich, dass Bruckner tatsächlich ein ‚unzeitgemäßer‘ Symphoniker war.

Wieder, wie im Fall der f-moll-Symphonie, lassen sich auch in der ‚nullten‘ Symphonie Vorgriffe auf den ersten Satz der dritten Symphonie – übrigens der Symphonie, die Bruckner am meisten zu schaffen machte – feststellen, so gleich die, an Stelle eines plastischen Hauptthemas (!) eingeführte, charakteristische Streicherfigur des Anfangs und vor allem der große Ostinato in der Coda (chromatisch absteigender Terzgang zur Dominante hin), der hier schon fast die Gewalt der späteren Version annimmt. Überhaupt ist Bruckners Coda-Gestaltung, von Anfang an historisch nicht ableitbar, ein Zeugnis seiner symphonischen Originalität. Das gilt in noch höherem Maße vom Finale der d-moll-Symphonie: Die langsame Einleitung und die vorherrschende kontrapunktische Gestaltung des Hauptthemas – stellenweise fühlt man sich an das Finale der letzten Symphonie MOZARTS erinnert - weisen auf das Finale der fünften Symphonie voraus. Und das Hauptthema (des Allegro-Teils) bricht selbst mit der für Bruckner typischen Wucht ein, wenn auch noch ohne die später so überaus charakteristische, ‚atmosphärische‘ Vorbereitung. An Plastizität und Schlagkraft kann es sich mit solchem Finale-Hauptthema wie dem der vierten Symphonie oder sogar dem Hauptthema des ersten Satzes der letzten d-moll-Symphonie (Nr. 9) bereits messen. Insgesamt kann die ‚nullte‘ Symphonie nicht so recht befriedigen, weil sie letztlich doch zu verschiedene Entwicklungsstufen Bruckners in sich vereinigt: Das Trio des Scherzos, unzweifelhaft 1869 komponiert, steht auf einer anderen Stufe als das bereits um 1864 komponierte Scherzo, das Adagio muss vor dem der offiziellen ersten Symphonie (1865/66) komponiert worden sein und reicht bei weitem nicht an die stilistische Qualität der Ecksätze heran. Und ist es nicht bezeichnend, dass Bruckner, als er die dritte Symphonie komponierte, der Streicherfigur des Anfangs jenes berühmte Trompetenthema hinzufügte, das Wagner, den Widmungsträger der Symphonie, zu höchster Bewunderung veranlasste?
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.