Frühe Orchesterwerke (1862 – 1863)

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t1 Konzertführer
Anton Bruckner
Frühe Orchesterwerke (1862 – 1863)

Während seiner Studien bei Otto Kitzler schrieb Bruckner, gewissermaßen als Fingerübungen im Orchestersatz, einen Marsch in d-moll und drei Orchesterstücke ohne nähere Angaben (alle 1862), erste Ergebnisse des Unterrichts in Formen- und Instrumentationslehre und kaum von Belang für den späteren Symphoniker Bruckner. Die als Abschluss der Arbeit bei Kitzler gedachte Ouvertüre in g-moll und die als „Schularbeit“ bezeichnete Symphonie in f-moll dagegen sprechen bereits eine gewichtige Sprache. Die Ouvertüre entstand zwischen Dezember 1862 und dem 22. Januar 1863 (Schlussdatum) und ist mehr als eine bloße Orchestrationsstudie. Es ist ein ausgedehnter Sonatensatz mit langsamer Einleitung und Steigerungszügen, die schon Bruckners reife Formungsweise im Ansatz ahnen lassen. Die ‚lntroduction‘ ist insgesamt auffälliger als das doch in recht ‚klassischen‘ Bahnen verlaufende Sonaten-Allegro. Doch immer wieder blitzen unvermutet typisch Bruckner‘sche Zugriffe auf, vor allem erstaunt der weitgespannte Bogen des Seitenthemas, bei dem man bereits den Atem des späteren Symphonikers spürt. Selbst die organische Entwicklungskunst ist ansatzweise vorhanden, und es gibt auch schon jene Klangverdünnungen vor Beginn der Durchführung, die Ernst Kurth als „Episoden der Leere“ bezeichnet hat und die überaus charakteristisch für Bruckners Musik sind. Die primäre Klanggestaltung kündigt sich ebenfalls an. Alles in allem ist die Ouvertüre eine beachtliche Talentprobe.

Welche Begabung wirklich in Bruckner steckte und allmählich zum Ausbruch drängte, zeigte die vom 15. Februar bis 26. Mai 1863 komponierte „Schularbeit“ (so nennt sie Bruckner im Autograph) der Symphonie in f-moll, die allerdings Kitzler merkwürdigerweise als „nicht besonders inspiriert“ bezeichnete, weshalb Bruckner sie weglegte, aber doch nicht vernichtete (auch nicht bei der Durchsicht der frühen Manuskripte kurz vor seinem Tod). Das sollte zu denken geben. Tatsächlich handelt es sich um Bruckners ersten und gewagten Versuch, seine Idee der großen Symphonie in Klang umzusetzen, wenn auch das Finale – bezeichnenderweise – der schwächste Satz ist. (Das Finalproblem sollte Bruckner später noch viel zu schaffen machen.) Dessen Hauptthema klingt allzu sehr nach Schumann, während die Posaunen-Akkorde in der Coda bereits echter Bruckner sind. Doch kann das Finale als Gesamtentwurf einer ausladenden Form – es umfasst immerhin 372 Takte – gegenüber dem riesigen ersten Satz (625 Takte!) sich kaum behaupten. Erst dort sprengt Bruckner nämlich den üblichen Rahmen und bewegt sich auf eigenem Terrain: Der dreiteilige Stufenplan der Exposition, wie er für alle Symphonien Bruckners gilt, ist bereits vorhanden, wenn auch die ‚dynamische Kulmination‘ des dritten Themas noch nicht in dem charakteristischen Unisono oder in den heterophonen Bildungen der offiziell gezählten Symphonien erklingt, sondern als Akkordsatz, freilich ohne choralartige Haltung. Wie genau Bruckners Formgefühl seismographisch ausschlagen konnte, zeigt die Einfügung eines vierten, abschließenden Themas, das die geringe Profilierung der Kulmination wettmacht. Bezeichnenderweise tritt es in der Reprise nicht mehr auf und wird durch eine alternative Passage ersetzt, die auf die Coda vorbereitet.

Der Satz enthält auffällige Vorgriffe auf die dritte Symphonie. Gleich das Anfangsmotiv und vor allem seine kontrapunktische Verwendung in der Coda wird im ersten Satz der dritten Symphonie sowohl als Kulmination des Hauptthemas als auch in der Coda eine entscheidende Rolle spielen. Und die sogenannte ‚Marien-Kadenz‘ des Seitenthemas (Takte 112 bis 114) begegnet uns wieder an zentraler Stelle im langsamen Satz der dritten Symphonie. Die Symphonie in f-moll ist aber, trotz aller Vorgriffe, keine unreife ‚Vorstufe‘ zu den späteren Symphonien, sondern die durchaus eigenständige Leistung eines Symphonikers, der von Anfang an in den größten musikalischen Dimensionen denkt. Die musikalische Tradition war für ihn nur eine Frage der satztechnischen Kunst, während er sich die Form als Prozess selber suchen musste.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.