Symphonische Dichtungen

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t1 Konzertführer
Antonín Dvořák
Symphonische Dichtungen

Nach der Rückkehr aus Amerika schloss Antonín Dvořák sein symphonisches Oeuvre mit fünf in den Jahren 1896/97 geschriebenen programmatischen Werken ab, die zunächst wie eine Rückwendung zu den in den siebziger Jahren überwundene Tendenzen der Neudeutschen Schule wirken: Vier von ihnen entstanden nach Balladen aus der Sammlung Kytice (Blumenstrauß) des Dichters Karel Jaromír Erben (1811-1870), die alte Volksmärchen verarbeiten. Großbürgerlicher Bildungsanspruch und herrisch-auftrumpfendes Pathos eines Franz Liszt standen dem Komponisten allerdings denkbar fern, zu fern, um von Hinneigen zur Neudeutschen Schule i m eigentlichen Sinn sprechen zu dürfen. Alle fünf symphonischen Dichtungen (die Dvořák selbst als „Balladen“ betitelte) fordern einen größeren Apparat als die Symphonien, oft dreifache Holzbläser (mit Piccoloflöte, Englischhorn, Bassklarinette, Kontrafagott), gelegentlich zweite Basstuba, Harfe sowie umfangreiches Schlagzeug; der Umgang mit dieser reichen orchestralen Farbpalette ist von reifer Meisterschaft, führt – wie einige Werke Tschaikowskys – unmittelbar zu Klangphänomenen der frühen Moderne.

Vodník (Der Wassermann) op. 107 erzählt die Geschichte des von einem Elementarwesen geraubten Mädchens; nach der Geburt eines von dem Geist empfangenen Kindes erlaubt dieser dem Mädchen für kurze Zeit die Rückkehr zu ihrer Mutter. Als das Mädchen nach der gesetzten Frist nicht ins Wasserreich zurückkehrt und der Wassermann auf sein Klopfen an die Tür der Hütte, in der des Mädchens Mutter wohnt, keine Antwort erhält, entfacht er in seinem Zorn einen gewaltigen Sturm, auf dessen Höhepunkt er dem Kind den Kopf abreißt und diesen mit fürchterlichem Krachen gegen die Hüttentür schleudert. Formal gestaltete Dvořák das Werk als großes Rondo, dessen Couplet-Teile aber durchführungsartig gearbeitet sind; sämtliche Themen sind aus dem Motivkern des Anfangs ableitbar. Die dumpfe, lastende Atmosphäre weiter Teile der Komposition wird wohl durch das lange Festhalten an der Haupttonart h-moll wie auch durch die Omnipräsenz von der Titelgestalt zugeordneten Motiven erreicht.

Polednice (Die Mittagshexe,) op. 108 schildert die Geschichte des unartigen Kindes, das seine Mutter bei der Arbeit stört; als diese nach wiederholtem Ermahnen dem Kind mit der Hexe droht, die in der Mittagsstunde umherschleicht und ungehorsame Kinder mit sich fortschleppt, erscheint die Hexe leibhaftig und fordert das Kind. Auf die ängstliche Weigerung der Mutter beginnt die Unholdin einen gespenstischen Tanz, bei dessen Höhepunkt die Glocke zwölf Uhr schlägt und die Hexe verschwindet. Der heimkehrende Vater aber findet seine Frau ohnmächtig am Herd vor: Das Kind hat sie in ihrer angstvollen Umarmung selbst erstickt. Dvořák hat dem eigentlichen Balladenbeginn (der Schilderung des schreienden Kindes) eine kurze Idylle vorangestellt und schließt die Komposition mit einer Wiederaufnahme beider Hexen-Themen, die wie ein höllisches Hohngelächter im donnernden Fortissimo des Tutti erklingen; er verfährt also hier relativ frei mit der dichterischen Vorlage zugunsten rein musikalischer Kriterien. Das Werk ist als komprimierte viersätzige Symphonie angelegt.

Zlatý kolovrat (Das goldene Spinnrad) op. 109 ist die Vertonung des Märchens von dem Mädchen Dornićka, das – in einer Hütte im Wald am Spinnrand sitzend – vom König zur Frau begehrt wird. Die Stiefmutter und deren Tochter töten und verstümmeln jedoch Dornićka auf dem Weg zum Schloss; dem König wird die Stiefschwester Dornićkas als Frau zugeführt. Dieser ahnt nicht den Betrug, vollzieht die Hochzeit und muss in den Krieg reiten. Ein Zauberer entdeckt im Wald den Leichnam des Mädchens, dem Augen, Arme und Beine fehlen. Er sendet seinen Knaben aufs Schloss, der der jungen Königin gegen menschliche Augen, Arme und Beine ein goldenes Spinnrad anbietet; diese geht bereitwillig auf den Tausch ein, worauf der Zauberer Dornićka zu neuem Leben erweckt. Der aus dem Krieg heimkehrende König bittet seine Frau, etwas auf dem goldenen Spinnrad zu spinnen – da entdeckt ihm eine Stimme aus diesem den Betrug und den Mord an Dornićka. Sofort reitet er in den Wald, findet dort seine wahre Geliebte und führt sie als Königin heim, während die Stiefmutter und deren Tochter von den Wölfen zerrissen werden. Die musikalische Gestaltung dieses Stoffs nahm Dvořák – der leichteren Verständlichkeit der Einzelheiten wegen – in enger Anlehnung an die Ballade Erbens vor; die Aneinanderreihung von Liedformen enthält durch die Rekapitulation der eröffnenden Abschnitte am Schluss des Werkes eine gewisse Geschlossenheit, die jedoch entschieden schwächer wirkt als in den mehr musikalisch autonom gestalteten vier anderen symphonischen Dichtungen. Der etwas mangelnden Übersicht beim Hören versuchte Josef Suk (Dvořáks Schwiegersohn, 1874-1935) durch einige Kürzungen abzuhelfen.

Holoubek (Die Waldtaube) op. 110 erzählt die Geschichte der jungen Witwe, die ihren Mann vergiftet hat und in geheuchelter Trauer hinter seinem Sarg herschreitet. Schnell aber ist alle Trauer vergessen, als sie einem stattlichen Burschen begegnet und ihn bald zum Traualtar führt. Über dem Grab des ermordeten ersten Gatten sitzt indessen die Waldtaube in einer Eiche, deren klagendes Gurren der Mörderin bald Gewissensqualen bereitet, die sie den Tod in den Wellen suchen lassen. Ähnlich wie in der Mittagshexe verfuhr Dvořák auch hier freier mit der literarischen Vorlage, indem er ihr einen Epilog anfügte, der die fluch-belastete Seele durch den Tod entsühnt erscheinen lässt. Die als durchkomponierte fünfsätzige Symphonie gestaltete Komposition basiert auf den beiden Grundmotiven des einleitenden Trauermarsches, die sich in variierter Gestalt durch das ganze Werk ziehen.

Píseń bohatýrská (Heroisches Lied) op. 111 ist Dvořáks letzte symphonische und zugleich letzte Komposition für Orchester überhaupt. Ihr liegt kein literarischer Vorwurf zugrunde, sondern eine poetische Idee. Über die Deutung des Werkes hat sich der Komponist nirgend geäußert; lediglich die verschiedenen Titel „Heldenlied“, „Heldenfeier“, „Siegeslied“ und „Leben eines Helden“ sind bekannt, die Dvořák vor dem Definitiven erwogen hatte. Der Annahme eines musikalischen Selbstporträts widerspricht die bescheidene, zurückhaltende Art des Komponisten, der nie gern über sich sprach; will man dieses – merkwürdigerweise trotz seiner musikalischen Qualitäten so gut wie nie gespielte – Werk dennoch auf eine Person beziehen, so läge die Annahme weit näher, darin einen musikalischen Nachruf auf den vier Monate vor Kompositionsbeginn verstorbenen Johannes Brahms erblicken zu können.
Hartmut Becker

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.