Symphonie Nr. 9 e-moll op. 95, Aus der Neuen Welt

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t1 Konzertführer
Antonín Dvořák
Symphonie Nr. 9 e-moll op. 95, Aus der Neuen Welt

Die zahllosen Spekulationen, in diesem Werk seien ‚indianische‘ Motive verarbeitet, hat der Komponist selbst für Unsinn erklärt; dennoch ist gerade darüber immer wieder geschrieben worden. Die oft als Beweis zitierte Pentatonik einzelner Themen (vor allem der Englischhorn-Melodie des Adagios) ist in der slavischen Volksmusik aber gleichfalls anzutreffen, die Synkopen des ersten und dritten Themas im Kopfsatz reflektieren böhmische Folklore ebenso wie Negro-Spirituals, und das Hauptthema des Scherzos kann ebenso gut als schöpferischer Reflex auf das Scherzo der neunten Symphonie Beethovens verstanden werden wie – und dies ist gewiss die primitivere Deutung! – als stilisierter ‚Indianer-Tanz‘. Viel wesentlicher als solche Äußerlichkeiten ist Dvořáks Hinwendung zum zyklischen Gestaltungsprinzip, das in diesem Werk die einzelnen Sätze nicht nur geistig, sondern auch substantiell greifbar miteinander verbindet. Der Komponist hat nicht verschwiegen, durch die Lektüre von Henry Wadsworth Longfellows Indianer-Epos Song of Hiawatha während der Arbeit an der Symphonie angeregt worden zu sein (ursprünglich wollte er diesen Stoff für eine Oper nutzen); solche literarischen Anregungen dürfen indessen nicht zu der Annahme verleiten, die Symphonie sei deskriptive Programmmusik. Sehr wohl aber ist sie nicht nur Abschluss der Reihe der Symphonien, sondern deutet zugleich auf Dvořáks eigentliche Programmmusik voraus.
Hartmut Becker

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.