Alexander Zemlinsky

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t1 Konzertführer
Alexander von Zemlinsky
Alexander Zemlinsky

Wien, 14. Oktober 1871 – Larchmont (New York), 16. März 1942

Lange Zeit kannte man Alexander Zemlinsky nur als den einzigen Lehrer und späteren Schwager Arnold Schönbergs. Erst in jüngster Zeit ist er aus dem Schatten der Wiener Schule ein wenig herausgetreten, sind vor allem seine Streichquartette und Opern, aber auch manche der Orchesterwerke einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden.
Mit der Musik von Johannes Brahms und Gustav Mahlers aufgewachsen, zeitlebens sich für Schönberg einsetzend, stand Zemlinsky gleichsam auf der Nahtstelle der Musikgeschichte, zwischen der romantischen Tradition und der Avantgarde des Schönberg-Kreises, dessen Schritt in die Atonalität er nicht mehr mitvollziehen konnte. Sein kompositorisches Schaffen – Zemlinsky war darüber hinaus auch ein hochgerühmter Dirigent – spiegelt wie kaum ein anderes die vielfältigen Strömungen des Fin de siècle. Die starke Orientierung am Geist der Epoche, auch die Tatsache, dass manche seiner Werke ihre Vorbilder nicht verbergen, hat denn auch dazu geführt, dass man Zemlinsky eine eklektizistische Kompositionshaltung vorgeworfen hat, die immer nur fremde Einflüsse willig aufnehme, ohne doch zu einem eigenen Ton zu finden. Sein Rang im Spannungsfeld der Zeitströmungen gründet sich jedoch darauf, dass – wie Theodor W. Adorno in seiner Rede auf Zemlinsky 1959 es formulierte – „in seinem Werk jene Kräfte aufs produktivste aneinander sich abarbeiteten“. Und wenn auch Zemlinsky eher als ein „retrospektiver Komponist“ (Horst Weber) sich darstellt, so ist er doch in der Musikgeschichte der Jahrhundertwende ein wichtiger Mittler zwischen Mahler und Schönberg, der in seinen besten Werken zu einem ganz eigenen, persönlich gefärbten Stil gelangte.

Aus den frühen Jahren ist außer einer Symphonie d-moll, die Zemlinsky als Abschlussarbeit seines Kompositionsstudiums am Wiener Konservatorium einreichte, die Symphonie B-dur erhalten. 1897 entstanden, kündet sie noch deutlich hörbar vom übermächtigen Einfluss Johannes Brahms‘, der überragenden Komponistengestalt jener Zeit und Zemlinskys Protektor in Wien. Auch das Vorbild Antonín Dvořák ist, vor allem im tänzerisch-unbeschwerten Gestus der Schlussgruppen, nicht zu verkennen.
Der erste Satz beginnt mit einer langsamen Einleitung, die bereits den Themenkern – eine fallende signalartige Quint – enthält, den der Allegro-Hauptteil dann voll entfaltet und der auch in den übrigen Sätzen der Symphonie eine gewichtige Rolle spielt. Dem rhythmisch markanten Hauptthema steht ein gesangliches Seitenthema gegenüber, die Schlussgruppe hat tänzerischen Charakter. Werden in der Durchführung noch alle drei Themengruppen gleichwertig behandelt, so verkürzt die Reprise das Hauptthema.
Der zweite Satz ist geprägt vom scharfen Kontrast zwischen dem akzentuierten Thema der Scherzo-Teile – mit seiner steigenden Quint eine Art Umkehrung des Hauptthemas aus dem ersten Satz – und den chromatisch-entrückten Klängen des Trio-Teils, in denen Zemlinskys späterer Stil schon ein wenig anklingt, wie auch in den von Wagner‘scher Harmonik bestimmten Einleitungstakten des Adagios, die freilich auf den weiteren Verlauf des dreiteiligen Satzes ohne Auswirkungen bleiben.
Der vierte Satz ist als Passacaglia konzipiert, eine postume Ehrbezeugung an den kurz vorher verstorbenen Brahms. Und wie in dessen vierter Symphonie bezieht sich auch hier die letzte Variation auf das Hauptthema des ersten Satzes zurück, ohne dass jedoch eine so enge konstruktive Verknüpfung der einzelnen Sätze erreicht worden wäre wie bei dem großen Vorbild.

Stilistisch völlig anders geartet sind die sechs Gesänge für mittlere Stimme und Orchester op. 13 nach Texten von Maurice Maeterlinck. 1913 bzw. 1924 als (bisweilen abweichende) Orchesterfassung der Klavierlieder von 1910 bis 1913 entstanden, sind sie ein Hauptwerk Zemlinskys und des musikalischen Fin de siècle gleichermaßen. Mit seinen dunklen, symbolbeladenen Gedichten und Dramen gehört der frühe Maeterlinck zu den bedeutendsten Poeten der Jahrhundertwende, dessen Werke unter anderem auch Schönberg vertonte. Die Texte seiner sechs Gesänge entnahm Zemlinsky Maeterlincks 15 Liedern, stellte die dort voneinander unabhängigen Gedichte jedoch so zusammen, dass sich ein kontinuierlicher Handlungsverlauf ergab. Beherrschendes Thema des Zyklus ist der Tod, den ‚Die drei Schwestern‘ des ersten Lieds zu suchen sich aufmachen und der, nachdem die einzelnen Lieder in einer „Sequenz von Szenen“ (Horst Weber) auf ihn zuführen, am Ende steht.

Diese Entwicklung vollzieht Zemlinsky in seiner Vertonung nach. Beginnt das erste Lied seltsam unbestimmt, vage, ohne thematische Prägnanz und eindeutige tonartliche Fixierung, so verfestigen sich im Verlauf des Zyklus die musikalischen Formen wie auch das harmonische Fundament umso mehr, je näher der Tod rückt, für dessen Unausweichlichkeit besonders die Kadenz steht, deren starke Zielgerichtetheit Erfüllung und Ende zugleich bedeutet.
Die ‚Maeterlinck-Lieder‘ stehen hörbar in der Tradition der Orchesterlieder Gustav Mahlers, vor allem der Lieder eines fahrenden Gesellen, gehen jedoch in ihrem entwickelten klanglichen Raffinement, dem morbiden Glanz der ausgefeilten Instrumentation, die etwa Harmonium und Celesta miteinbezieht, noch über diese hinaus. Charakteristisch für das Werk ist vor allem, wie Adorno es ausdrückte, „Zemlinskys Fähigkeit, kondensierteste Melismen zu formulieren, in welche die lyrische Süße wie in Waben sich zusammendrängt“. Über Fin de siècle-Klangreize hinaus weisen jedoch der reduzierte Orchestersatz und der lakonisch-schlichte, am natürlichen Sprachrhythmus sich orientierende Ton der Gesangstimme – Tendenzen, die auf Kurt Weills Songstil vorausdeuten.

Das erste Lied ‚Die drei Schwestern‘ bildet gleichsam die Exposition des ganzen Zyklus. In drei Strophen bitten die Schwestern den Wald, das Meer und die Stadt, ihnen den Tod zu schenken. Ist der erste Teil jeder Strophe, sozusagen der Refrain, eher schlichterzählend vertont, so untermalt der zweite den Todeswunsch der Schwestern mit impressionistischen Kaskaden. Durchaus deskriptiv sind im dritten Teil jeder Strophe die Antworten von Wald und Wind geschildert; die Antwort der Stadt, die offenbar den Schwestern die Erfüllung bringt, führt zu einem großen leidenschaftlichen Höhepunkt des Satzes, mit dem er schließt.
Die beiden nächsten Lieder verbleiben ganz in einem ruhigen, sanft fließenden Ton, im dritten Lied, das den Trost der Jungfrau (Maria?) enthält, erweckt zusätzlich zum Text auch das Harmonium den Anklang an Sakrales.
Das vierte Lied handelt von den Fragen des heimkehrenden Mannes nach seiner in den Tod entschwundenen Geliebten. Der dialogisch angelegte Text spiegelt sich auch in der Musik wider: Die Frage stellt jeweils den Vordersatz einer Phrase dar, die Antwort den Nachsatz.
Schildert das fünfte Lied in festen, das Metrum betonenden Akkorden den Eindruck des nahenden Todes, so bringt das letzte dessen Erfüllung. Noch einmal greift die Musik Motive der vorangegangenen Lieder auf und rekapituliert so die Entwicklung auf den Tod zu. Der Zyklus endet zart in einem dissonanten Akkord.

Die Lyrische Symphonie op. 18 nach Gedichten von Rabindranath Tagore, in den Jahren 1922/23 entstanden, ist Alexander Zemlinskys bekanntestes Werk; nicht zuletzt deshalb, weil Alban Berg in seiner Lyrischen Suite sich darauf bezog und das Thema des dritten Lieds wörtlich zitierte. Als eine Verbindung der Gattungen Lied und Symphonie ist die Lyrische Symphonie vor allem Gustav Mahlers Lied von der Erde weitgehend verpflichtet, mit dem sie auch die exotisierenden, die Ferne beschwörenden Texte gemein hat. Auch Zemlinsky selbst verwies auf Mahler, als er seinem Verleger Emil Hertzka mitteilte, er habe „etwas geschrieben, in der Art des Lied von der Erde“. Gleichwohl sind auch die Differenzen zwischen den beiden Werken nicht zu übersehen. Stellen, worauf Monika Lichtenfeld hingewiesen hat, die Alt- und Tenorstimme in Mahlers Konzeption lediglich verschiedene Ausformungen desselben lyrischen Subjekts dar, so verkörpern Sopran und Bariton in der Lyrischen Symphonie tatsächlich Mann und Frau, konstituieren einen, wenn auch vergeblichen und ins Leere laufenden Dialog. Auch sind die einzelnen Lieder der Lyrischen Symphonie im Gegensatz zum Lied von der Erde durch Zwischenspiele miteinander verbunden, so die durchgehende Handlung betonend. Denn wie bei den ‚Maeterlinck-Gesängen‘ wählte Zemlinsky auch hier aus Tagores Gedichtsammlung Der Gärtner, die 1914 in deutscher Übersetzung erschienen war, einzelne, zunächst unverbundene Gedichte aus, die er dann in einen kontinuierlichen Zusammenhang brachte. Die Einheitlichkeit der Stimmung lag Zemlinsky dabei offenbar sehr am Herzen, betonte er doch 1924 in der Zeitschrift ‚Pult und Taktstock‘ die „innere Zusammengehörigkeit der sieben Gesänge mit ihren Vor- und Zwischenspielen, die alle ein und denselben tiefernsten, leidenschaftlichen Grundton haben“, wie er sich im Vorspiel und im ersten Lied aufbaue.

In der Lyrischen Symphonie kommt Zemlinskys Stil am reichsten zur Entfaltung: in der meisterhaft gehandhabten Variantenbildung, der nahezu expressionistischen Ausdruckskraft seiner betörenden Klänge, der Harmonik, die sich – vage und vieldeutig – hier am weitesten vom sicheren tonalen Fundament entfernt. Und auch die Melodik weist nirgends so sehr wie in der Lyrischen Symphonie jenen Tonfall auf, den Adorno rühmte als „Tonfall im wörtlichen Verstande, ein ausdrucksvolles Senken der Stimme, melancholisch vorweg; die Linie ahmt das kompositorische Temperament nach“.
Im Zentrum der Lyrischen Symphonie steht das „Verhältnis von Kunst und Leben“ (Horst Weber) und damit eine, wenn nicht die zentrale Frage der Kunst im Ästhetizismus des Fin de siècle. In der – nur in der Vorstellungswelt und den Träumen sich abspielenden – Liebe zwischen dem Mann, durch Flügel und Roß als Dichter gekennzeichnet, und der Frau – in dieser Liebe, die in der Erinnerung aufbewahrt und in der Kunst sublimiert und so recht eigentlich erst erlebt wird, fasst Zemlinsky die Gedankenwelt der Jahrhundertwende geradezu exemplarisch in Musik. Freilich, und dies ist für den retrospektiven Komponisten Zemlinsky bezeichnend: zwanzig Jahre ‚zu spät‘, in einer Zeit, als diese Welt längst untergegangen war. Dem künstlerischen Rang seines ‚opus magnum‘ tut dies jedoch keinen Abbruch.
Das Vorspiel der Lyrischen Symphonie hebt an mit mächtigen, parallel verschobenen Akkorden, die die schicksal-schwangere Atmosphäre bedrohlich verkörpern, bald jedoch aufgelöst werden in ein Gespinst aus Einzelstimmen, das ungeduldig drängend im ersten Lied auch die Sehnsucht des Mannes nach dem Fernen widerspiegelt. Tendiert die Musik in diesen Abschnitten auch harmonisch ins Fremde, die Atonalität, so zieht sie sich im zweiten Teil einer jeden Strophe, in der der Mann seiner Grenzen inne wird, auf feste tonale Bindungen zurück, sich so ebenfalls Fesseln anlegend.
Zwischen Phantasie und Realität wird im zweiten Lied auch die Frau hin- und hergerissen. Ihre Träume vom „jungen Prinzen“ begleitet eine munter-frische, tänzerische Musik, die melodisch und rhythmisch gleichsam von der Begeisterung mitgerissen wird und über ihr reguläres Maß hinausschießt. Wird sich die Frau aber bewusst, dass ihr Werben und Lieben unerhört bleibt, verliert auch die Musik an Reiz, wird einfacher, metrisch gebundener. Der Satz mündet ein in die leitmotivischen Anfangsakkorde, die überleiten zum dritten Lied, dem Gipfel der Leidenschaft in der Lyrischen Symphonie.
Die Erfüllung, die der Mann in der Liebe zu jener – irrealen, fernen – Frau seiner „unsterblichen Träume“ findet, schildert die Musik in wild bewegtem, geradezu schmachtendem Ton. Das Thema des jede Strophe abschließenden Refrains „Du bist mein eigen“ übernahm Alban Berg in die Lyrische Suite. Höhepunkt des Satzes sind die Worte „habe dich eingesponnen, Geliebte, in das Netz meiner Musik“, also die geglückte Transformation des Lebens in die Kunst. Danach klingt das Lied in fallenden Melodien ruhig aus.

Der hitzigen Emphase des dritten Lieds steht im vierten die ätherische Entrücktheit eines Nachtgesangs gegenüber, in dem sich die imaginäre Liebe der Frau erfüllt. Über einem durchgehaltenen Orchesterpedal entfaltet sich ein flirrender, zauberischer Klang, gelöst von allen tonartlichen Bindungen, weit ausholende Melodien scheinen wie in Trance zu sprechen. Eine zeitlose Traumwelt, in die mit dem fünften Lied „feurig und kraftvoll“, in schroffstem Gegensatz, das Verlangen des Mannes nach Befreiung von den „Banden der Süße“ einbricht, untermalt von einer laut auftrumpfenden, äußerlich wirkenden Musik. Das sechste Lied stößt am weitesten in musikalisches Neuland vor. Zemlinsky verwendet Ausdrucksmittel, die denen des atonalen Expressionismus nicht nachstehen, die resignative Entsagung der Frau ist ein „Rezitativ in musikalischer Prosa atonaler Tendenz“ (Horst Weber). Der Schwebezustand mündet ein in eine Rekapitulation der Themen des ersten und dritten Lieds, bis sich der Satz am Ende ins Dur lichtet.
Im letzten Lied, dessen Hauptmotiv Zemlinsky Mahlers Einsamen im Herbst entnahm, herrscht eine gelöst-melancholische Stimmung vor. Lange, ruhige Akkorde stehen für die ‚Vollendung‘, die geglückte Transformation von Liebe in Kunst. Traumversunken endet die Lyrische Symphonie.

Vom reifen Stil, wie ihn die Lyrische Symphonie repräsentiert, unterscheidet sich die Sinfonietta für Orchester op. 23 merklich. Sie entstand 1934 und ist somit eines der letzten Werke, die Zemlinsky noch in Europa komponierte, bevor er vor dem Nationalsozialismus nach Amerika emigrierte, wo er 1942 vereinsamt starb. Schon im Titel vermeidet die Sinfonietta die große Emphase der Romantik, knüpft in der Reduktion der Mittel, dem klassizistischen Zuschnitt der Sätze, den konzertanten Momenten eher an die Spielmusik an, wie sie in den zwanziger und dreißiger Jahren in der ‚Neuen Sachlichkeit‘ in hoher Blüte stand. Der flirrende Klangsensualismus der Lyrischen Symphonie ist weitgehend verschwunden, die Musik gewinnt klare und einprägsame Konturen, einen prägnanten Rhythmus, entgeht freilich nicht immer der Gefahr bloßen mechanistischen Leerlaufs. Der Kopfsatz stellt ein rhythmisch prägnantes Auftaktmotiv von drängendem Charakter – „eine Fanfare auf dem Rückzug“ (Horst Weber) – einem lyrischen, in weitem Bogen abfallenden Thema gegenüber. Kein Sonatensatz ist dieser ‚sehr lebhafte‘ Satz jedoch, vielmehr reihen sich variativ Abschnitte größerer Dramatik und packenden Zugriffs wechselnd mit Momenten des ruhigen Innehaltens.
Der Mittelsatz, eine wehmütige Ballade in b-moll, steht der spätromantischen Ausdruckswelt noch am nächsten. Das Thema, ein Zitat aus dem letzten der ‚Maeterlinck-Gesänge‘, hebt zögernd, tastend an, immer wieder schnell zum Ende kommend. Die Instrumentation (gedämpfte Trompeten und Tamtam) erinnern an einen Trauermarsch. Langsam entwickelt sich der Satz, baut aus tremolierenden Terzbewegungen dissonante Klangflächen auf, die sich gleichsam hochschaukeln zu einem prunkenden Höhepunkt, der jedoch schnell wieder zurückgenommen wird. Das Ende nimmt auf den Anfang des Satzes Bezug, der fahl vergeht.
Das Thema des abschließenden Rondos ist von heiter-witziger Unbeschwertheit. Ihm stehen in den Couplets kontrastierend schwelgerische Passagen gegenüber, die einzelne Motive der vorangegangenen Sätze nochmals aufnehmen. Die Sinfonietta schließt stürmisch.
Zemlinskys letztes Orchesterwerk gehört schon einer anderen Zeit an, nur noch von Ferne scheint – vor allem im zweiten Satz – das Fin de siècle auf.

Rainer Pöllmann

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.