Das «Mächtige Häuflein»

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t1 Konzertführer
Modest Mussorgsky, Alexander Borodin, César Cui, Milij Alexejewitsch Balakirew
Das «Mächtige Häuflein»

Mili Balakirew (1837 – 1910) César A. Cui (1835 – 1918)
Modest P. Mussorgsky (1839 – 1881) Alexander P. Borodin (1834 – 1887)

Die Entstehung der nationalen russischen Musik im 19. Jahrhundert ist untrennbar mit dem Namen Michail Glinka (1804 – 1857) verknüpft; seine beiden Opern und die Orchesterwerke markieren das Ende einer langen ‚musikalischen Fremdherrschaft‘ in der kulturellen Entwicklung des riesigen Reiches. Glinkas Neubeginn war allerdings mit einer Hypothek belastet, die sich auf seine Gefolgsleute übertrug und in den sechziger und siebziger Jahren zu teilweise heftigen Fraktionskämpfen in der Musikszene des Landes führten: Die Ablehnung einer regelrechten musikalisch-theoretischen Ausbildung und – damit verbunden – das Berufsmusikertum. Im Gegensatz zu Musikern wie etwa Louis Spohr, der als Komponist Autodidakt war, liegt bei der nationalen russischen Schule dadurch das Reizwort ‚Dilettantismus‘ nahe. Drei ihrer Mitglieder übten tatsächlich ihr Leben lang bürgerliche Berufe aus, lediglich das musikalische Haupt der Schule, Mili Balakirew (1837 – 1910), war – allerdings mit einer elfjährigen Unterbrechung – als Pianist, Dirigent und Organisator tätig.

Balakirew, der als junger Mann dem Freundeskreis des alternden Glinka angehört hatte, lernte in dessen Todesjahr den Militär-Ingenieur César Antonowitsch Cui (1835 – 1918) und den Gardeoffizier Modest Petrowitsch Mussorgsky (1839 – 1881) bei Hausmusik-Soireen des Komponisten Alexander Dargomyschsky (1813 – 1869) kennen. Bis auf die Tatsache, dass sowohl Balakirew wie Mussorgsky pianistische Wunderkinder gewesen waren, besaß keiner von ihnen eine fundierte musikalische Ausbildung. Balakirew, voll Energie und Temperament, wusste beide für die Ideen Glinkas zu begeistern, erhob allerdings auch gelegentliche Äußerungen des ‚Vaters‘ der russischen Nationalmusik zum Postulat, insbesondere die Ablehnung jeglicher ‚akademischen‘ Ausbildung. Grundlage der nationalen Tonkunst sollte ausschließlich die Volksmusik sein. Diese Ablehnung richtete sich vor allem gegen Anton Rubinstein und dessen Bestrebungen, mit Hilfe seiner Kontakte zu Hofkreisen in Russland Ausbildungsstätten für Musiker einzurichten. Rubinsteins Orientierung an der deutschen Romantik und seine Pläne, deutsche und tschechische Lehrer an solche Institute zu holen, da Russen für diese Aufgaben nicht zur Verfügung standen, empfand Balakirew als Verrat an der nationalen Sache; sowohl er wie der Bibliothekar und Kunsthistoriker Wladimir Stassow (1824 – 1906) und der eine polemischspitze Feder führende Cui befehdeten den als ‚Westler‘ diffamierten Kreis der Musiker um Rubinstein. Während diese Kämpfe begannen, stieß der junge Marineoffizier Nikolai Rimskij-Korsakow (1844 – 1908) zu den ‚Balakirews‘; seine Entwicklung verlief allerdings seit Beginn der 1870er Jahre nicht mehr nach der von Balakirew vorgegebenen Richtung: Er holte im reifen Alter jene Versäumnisse an theoretischer Ausbildung nach, die Balakirew gerade als schädlich so sehr ablehnte, wurde also – wenngleich relativ spät – zu einem Berufsmusiker, dessen pädagogisches Können mehrere Generationen russischer Musikschöpfer bis zu Strawinsky entscheidend formte. Rimskij nimmt damit eine Sonderstellung ein, gehört nur bedingt zu jener Komponistengruppe um Balakirew, die Stassow 1867 mit dem noch heute geläufigen Namen ‚Mächtiges Häuflein‘ bezeichnete; er bleibt aus dieser Betrachtung ausgespart. Als letztes bedeutendes Mitglied stieß 1862 der Chemiker Alexander Porfirjewitsch Borodin (1834 –1887) zum Balakirew-Kreis. Er hatte zunächst Medizin studiert, war dann 1859 für drei Jahre nach Heidelberg gegangen, um sich bei Erlenmeyer als Chemiker ausbilden zu lassen. Während seiner Studienjahre hatte Borodin, der eine der großen Hoffnungen der russischen Akademie war und tatsächlich ein bedeutender Wissenschaftler wurde, schon in der Heimat seine Freizeit in Konzerten und mit Kammermusikspiel verbracht; während seines Aufenthalts in Deutschland, also noch vor seinem Zusammentreffen mit den Mitgliedern des Balakirew-Kreises, hatte er die Musik der Klassik und Romantik kennengelernt und selbst einiges an Kammermusik geschrieben, darunter ein Klaviertrio, ein Klavierquintett, ein Streichquintett und ein nicht vollendetes Streichsextett.
Balakirew war als musikalischer Kopf des ‚Mächtigen Häufleins‘ gewiss ein Anreger, der – voll origineller Ideen und Temperament – seinen Gefolgsleuten den Anstoß für bedeutende Werke geben konnte; zugleich war er mit genügend analytischem Verstand begabt, Fehler und Schwächen erkennen zu können. Seine despotische Art jedoch und vor allem die Unfähigkeit, pädagogisch zu reagieren, das heißt einer meist scharfen Kritik das Aufzeigen eines besseren Weges folgen zu lassen, haben der Gruppe geschadet. Er hat zum Beispiel nicht erkannt oder erkennen wollen, dass Mussorgsky besonders theoretische Kenntnisse fehlten, um seine musikalischen Gedanken in adäquater Art auszudrücken.

Das orchestrale Schaffen der Mitglieder des ‚Mächtigen Häufleins‘ ist schmal, dabei in der Ausrichtung und Qualität durchaus unterschiedlich. Größere Werke haben oft sehr lange Entstehungszeiten, da der bürgerliche Beruf meist wenig Zeit zu kontinuierlicher kompositorischer Arbeit ließ. Das schöpferische Interesse Mussorgskys und Cuis war außerdem auf die musikdramatischen Formen gerichtet, sodass an deren Oeuvre die Orchesterkompositionen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Cui hinterließ – nach zwei frühen Scherzi (op. 1 und op. 2, 1857) und einer Tarantelle (op. 12, 1859), vier Suiten (op. 20, 38, 40 und 43, entstanden in den 1880er Jahren), die im heutigen Konzertbetrieb merkwürdigerweise keinerlei Beachtung mehr finden; nicht besser ergeht es seiner Suite concertante für Violine und Orchester (op. 25, 1883), die eigentlich als ein in der Tradition formaler Experimente eines Bruch und Lalo stehendes Konzert anzusehen ist. Noch der Tschaikowsky-Schüler Sergej Tanejew (1856 – 1915) schrieb 1909 ein solches fünfsätziges Konzert, das als Suite bezeichnet ist (op. 28). Auch das dürftige Repertoire der Violoncellisten bereicherte Cui mit zwei orchesterbegleitenden Stücken (op. 36, 1886). Modest Mussorgsky hinterließ nur ein größeres Orchesterwerk, und auch dieses wird heute in der von Rimskij-Korsakow überarbeiteten Fassung aufgeführt: Die Phantasie Eine Nacht auf dem Kahlen Berge. Ursprünglich 1860 bis 1862 für Orchester geschrieben, arbeitete Mussorgsky sie – unter dem Eindruck des Totentanzes von Franz Liszt – 1867 für Klavier und Orchester um; zwei weitere Fassungen als Opernszenen können hier außer Acht bleiben. Rimskij griff auf die zweite Fassung zurück, entfernte das Soloklavier, retuschierte die Instrumentation und fügte den heutigen ruhigen Schluss an, der allerdings musikalisches Material von Mussorgsky (die ‚Dumka‘ des Gritzko aus dem Jahrmarkt von Sorotschinzij) benutzt. Formal wie inhaltlich reflektiert dieses Werk die Einflüsse von Berlioz und Liszt auf das ‚Mächtige Häuflein‘. Die drei anderen kurzen Orchestersätze des Komponisten, ein Scherzo (B-dur, 1858), Alla marcia notturna, (1861) und Intermezzo symphonique in modo classico (1867) spielen leider im Konzertleben ebenso wenig eine Rolle wie die Kantate Die Niederlage Sennacheribs (nach Byron, 1867) für gemischten Chor und Orchester.
Dasjenige Werk, das Mussorgskys Namen im Konzertsaal am nachhaltigsten bekannt gehalten hat, ist der suitenartig angelegte Zyklus Bilder einer Ausstellung, der 1874 als Komposition für Klavier solo entstanden ist. Im Sommer des Vorjahres war der Maler Victor Alexandrowitsch Hartmann, ein enger Freund des Komponisten, im Alter von 39 Jahren in Moskau an einem Herzanfall gestorben. Zu Beginn des Jahres 1874 arrangierte Wladimir Stassow in St. Petersburg eine Gedächtnis-Ausstellung für den verstorbenen Maler, zu der übrigens Mussorgsky selbst – laut Katalog – das Bild der beiden polnischen Juden Samuel Goldenberg und Schmuyle aus seinem privaten Besitz beisteuerte. Die Umsetzung von zehn Bildern Hartmanns in Musik gelang dem Komponisten im Juni 1874 binnen weniger Wochen. Der hochvirtuose, an Liszt orientierte Klaviersatz ist über weite Strecken von einer orchestralen Dichte und Monumentalität. Bindendes Element des Zyklus ist die jeweilige ‚Promenade‘, eine Art musikalisches Selbstportrait Mussorgskys, der in wechselnden Stimmungen die Ausstellung durchschreitet; einleitend und anfangs als Intermezzo nach jedem Bild, verbindet sie schließlich kontrastierende Bildpaare, taucht schließlich in das Bild Cum mortuis in lingua mortua selbst ein, um im pompösen Finale, dem ‚Großen Tor von Kiew‘, regelrecht verarbeitet zu werden. Die Affinität des Werkes zu orchestraler Gestaltung reizte nicht wenige Komponisten und Dirigenten zur Ausarbeitung instrumentierter Fassungen; die bekannteste, erfolgreichste und gewiss raffinierteste Fassung für Orchester stammt aus der Feder von Maurice Ravel, der sie 1922 im Auftrag von Sergej Koussewitzky, des berühmten russischen Dirigenten, ausführte. Ravel hat in seiner Fassung die letzte, separat stehende Promenade des Originals (nach dem Bild Samuel Goldenberg und Schmuyle) gestrichen.

Alexander Borodin darf als bedeutendster Symphoniker des ‚Mächtigen Häufleins‘ angesehen werden. Schon seine erste Symphonie (Es-dur, 1862 bis 1867) zeigt zugleich Orientierungen an der deutschen Klassik und Romantik wie andererseits große Originalität in der Verarbeitung solcher Anregungen. Schon von diesem symphonischen Erstling sind Anregungen und Einflüsse ausgegangen, die bis in die frühen Symphonien von Alexander Skrijabin und Jean Sibelius hinein nachweisbar sind. Noch bedeutender und bekannter ist die zweite Symphonie (h-moll, 1871 bis 1876), in der sich der Komponist von fremden Einflüssen ganz freigemacht hat. Mussorgsky nannte das Werk „Sklavische heroische Symphonie“ und setzte es Beethovens Eroica gleich. Urwüchsig und kraftvoll in den raschen Sätzen, voller Poesie in dem kantablen Andante, wurde diese Symphonie bald als Verherrlichung der Heimat und ihrer Menschen verstanden – eine poetische Idee, der man in Janáčeks Taras Bulba wiederbegegnet. Die 1879 ausgeführten Retuschen der Instrumentation führte Borodin selbst aus, nicht etwa – wie später oft vorn Verleger behauptet – Rimskij-Korsakow oder Alexander Glasunow.
Franz Liszt, den Borodin 1877 in Weimar kennenlernte, setzte sich in Deutschland für die beiden Symphonien des Russen ein; der bedankte sich 1880 mit einer kurzen symphonischen Dichtung, Eine Steppenskizze in Mittelasien, die er Liszt widmete. Den hier geschilderten Vorgang, das Vorüberziehen einer orientalischen Karawane, die von russischen Soldaten eskortiert wird, gibt dem Komponisten die Möglichkeit, die beiden hier repräsentierten Kulturkreise durch entsprechende Thematik zu charakterisieren, zunächst getrennt und im Wechsel, schließlich in Engführung. Von der 1886 begonnenen dritten Symphonie (a-moll) sind nur die ersten beiden Sätze erhalten, deren erster von Glasunow nach Borodins Skizzen und dank eines phänomenalen Gedächtnisses ausgeschrieben wurde; zusammen mit einem einzelnen Satz für Streichquartett (den Borodin als Scherzo vorgesehen hatte) instrumentierte Glasunow dieses fragmentarische Werk, dessen Ausreifen der plötzliche Tod des Autors verhinderte.

Mili Balakirew hat sich als einziger Komponist des ‚Mächtigen Häufleins‘ nicht mit musikdramatischen Formen schöpferisch auseinandergesetzt; dafür nimmt die programmatische Symphonik in seinem Oeuvre breiteren Raum ein. Er ging – wie Liszt und Glinka – von der Form der Konzertouvertüre aus (alle seine symphonischen Dichtungen waren in den Erstfassungen so betitelt). Die meisten seiner Werke erfuhren mindestens eine Umarbeitung, die Balakirew manchmal noch zwei Jahrzehnte nach der Entstehung vornahm. Der kritische, analytische Scharfblick hemmte oft die eigene Schaffenskraft des Komponisten, so im Fall der 1866 begonnenen, aber erst zweiunddreißig Jahre später vollendeten ersten Symphonie (C-dur), oder des 1861 mit viel Elan begonnenen zweiten Klavierkonzerts (Es-dur), welches das erste Werk dieser Gattung in der national-russischen Schule hätte werden können, aber erst nach Balakirews Tod von seinem Schüler Sergej Ljapunow fertiggestellt wurde. Solche langen Entstehungszeiten hatten zur Folge, dass diese eigentlich sehr originellen und auch technisch gediegen gearbeiteten Kompositionen bei ihrem schließlichen Erscheinen konservativ, wenn nicht gar veraltet wirkten, da Balakirew ihre ursprüngliche Konzeption nicht veränderte. Die Bedeutung Balakirews wird auf diese Art nur zu oft unterschätzt. Konservativ war er erst am Ende seines Lebens, wovon die zweite Symphonie (d-moll, 1807/08) Zeugnis ablegt. Von den pianistischen Fähigkeiten des jungen Balakirew überzeugt das 1855 entstandene erste Klavierkonzert (fis-moll), das Chopin‘sche Eleganz, Liszt‘sche Bravour und eigenwüchsige Thematik in einem einzigen Satz zur Synthese bringt.
Hartmut Becker

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.