Symphonische Stücke aus der Oper Lulu

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t1 Konzertführer
Alban Berg
Symphonische Stücke aus der Oper Lulu

Im Vorfeld der für Berlin geplanten Uraufführung von Bergs zweiter Oper, die wieder Erich Kleiber dirigieren sollte wie 1925 den Wozzeck und die nicht mehr stattfinden konnte, weil Berg über der Vollendung starb und seine Musik von den Nazis verboten wurde, kam es, als Parallelfall zu den Bruchstücken aus der Oper Wozzeck, auch zu einer Konzertfassung von Teilen der gerade entstehenden Lulu-Musik, freilich diesmal in symphonischem Gewand. Im Sommer 1934 stellte Berg fünf Sätze zusammen und nannte sie Symphonische Stücke aus der Oper Lulu; gedacht war diese Art Symphonie als ‚Propaganda‘ für die künftige Uraufführung der Oper. Am 30. November 1934 dirigierte Erich Kleiber in Berlin die Uraufführung der Symphonischen Stücke, die für ihn ein solches politisches Wagnis war, dass er kurz darauf emigrieren musste. Die Nazi-Presse veröffentlichte heftige Angriffe gegen Werk und Aufführung. Es hieß, Bergs Musik sei dem Machwerk Wedekinds ebenbürtig und eine Schande für deutsche Ohren etc. Das war das Ende. Berg zog sich völlig zurück und hörte von seiner Musik keine Note mehr.

Im Gegensatz zu den Wozzeck-Bruchstücken ist die sogenannte Lulu-Suite (wie die Symphonischen Stücke ursprünglich genannt waren) eine Art fünfsätzige, ausgewachsene Symphonie mit einem Vokalsatz in der Mitte und einem Schluss-Adagio, die beide an Mahlers symphonische Dramaturgie erinnern. Und der erste Satz ist zugleich der umfangreichste. Er enthält die Musik der beiden Szenen zwischen Lulu und Alwa aus dem zweiten Akt (ohne die rezitativischen Einschübe), mit Alwas ‚Hymne‘ als Höhepunkt wie dort auch. Der zweite Satz ist das unveränderte Ostinato-Zwischenspiel zu dem Stummfilm, der die beiden Szenen des zweiten Aktes überbrückt (Lulus Gefangennahme und Befreiung), der Vokalsatz ist identisch mit dem Lied der Lulu aus der ersten Szene des zweiten Aktes, als Lulu mit vorgehaltenem Revolver von sich selber singt (im Tempo des Pulsschlags!), und die beiden letzten Sätze sind dem (unvollendeten) dritten Akt entnommen: die ‚Variationen‘ (über das Lautenlied Konfession von Wedekind), die Adorno als „authentischen musikalischen Surrealismus“ bezeichnet hat, und das ‚Adagio‘, der Schluss der Oper, mit Lulus zwölftönigem Todesakkord und dem Liebestod der Gräfin Geschwitz. Die ‚Variationen‘ sind das Zwischenspiel, das von der Pariser Spielhölle in die Londoner Dachkammer führt, in der sich Lulu zur Straßendirne degradieren lassen muss.

Dass es sich bei den Symphonischen Stücken um eine Symphonie im Sinne Mahlers handelt, darauf hat Adorno seinerzeit als erster aufmerksam gemacht: „Nirgends ist die Beziehung zum späten Mahler deutlicher als hier. Fünf Sätze: die außenstehenden, durchaus symphonischer Art wie etwa in Mahlers Neunter, schließen drei kurze Mittelsätze von bestimmten ‚Charakteren‘ – vielleicht ähnlich der Siebenten – zusammen.“ Der erste, reichste Satz ist ein umfangreiches Rondo und das Schluss-Adagio nichts weniger als die auskomponierte Logik des Zerfalls, wie im Adagio der zehnten Symphonie Mahlers. Die Mittelsätze realisieren jeweils eine bestimmte Formidee: die Filmmusik die Umkehrbarkeit des Ablaufs, gemäß der krebsgängigen Handlung des Films, das ‚Lied der Lulu‘ die musikalische Spiegelung der dialektischen Textstruktur in einem Strophenlied mit Gegenphrasen im Umkehrungsverhältnis, und die ‚Variationen‘ über Wedekinds Bänkellied (in C-dur!) die Verzerrung der Tonalität als besondere Art von Collage, denn die Liedmelodie wird selbst nicht eigentlich ‚variiert‘, sondern mit fremden Stimmen überklebt.

Als Essenz der Oper sind die Symphonischen Stücke vorab hervorragend geeignet, ein Bild davon zu geben, wie die gesamte Oper klänge, wenn Berg sie vollendet hätte. Noch weit mehr als in der Weinarie changiert die Lulu-Musik zwischen Schönbergs Zwölftontechnik, Zirkusmusik, Modetänzen der zwanziger Jahre, Drehorgelzitaten (als Ferment der zweiten Szene des dritten Aktes) und Abgründen der einstigen tonalen Musiksprache, die nun, gebrochen durch die Reihentechnik, wie aus zweiter Hand noch einmal aufleuchtet, ähnlich den Verfremdungen, die Mahler innerhalb der Tonalität als Masken der künftigen Dissonanzen schuf. Berg benutzt in der Lulu die Reihentechnik, um mit ihrer Hilfe, auf zweiter Ebene, das zu restituieren, was bislang in der Musik der Wiener Schule einzig Produkt der durch die Reihen gerechtfertigten Tonbeziehungen war: die Dimension der Harmonik. Und der Orchesterklang der Lulu-Musik verfügt über die ganze Spannweite von der luxuriösen Sinnlichkeit in den Alwa-Partien (erster Satz der Symphonischen Stücke), über die Fratzen der Tonalität in den Bänkellied-‚Variationen‘ bis hin zu der trostlosen Atmosphäre der Londoner Dachkammer, einer Musik unbeschreiblichen Grauens, in die der durchdringend instrumentierte Todesakkord Lulus hineingellt.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.