Drei Orchesterstücke op. 6

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t1 Konzertführer
Alban Berg
Drei Orchesterstücke op. 6

Nach den Aphorismen der Altenberg-Lieder und der kurz darauf komponierten vier kurzen Stücke für Klarinette und Klavier op. 5, die Heinz-Klaus Metzger einmal „Embryonen potentieller Opern“ genannt hat, plante Berg, eine Symphonie zu komponieren. Und er wäre in der Tat, hätte er sie wirklich geschrieben, der einzige Komponist der Wiener Schule gewesen, der das legitime Erbe Gustav Mahlers hätte antreten können. Die postumen Uraufführungen von Mahlers neunter Symphonie und des Lieds von der Erde gehörten zu Bergs stärksten künstlerischen Eindrücken am Vorabend der Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Der Symphonieplan ging schließlich auf in zwei Werken, die im ‚Ton‘ viel gemeinsam haben: in den Drei Orchesterstücken op. 6 und in der Büchner-Oper Wozzeck. Berg wendet sich nun der expansiven Form zu, wenn auch die Breite nicht zeitlich gemeint ist, sondern stilistisch. Bergs Hang zum Vermischen heterogener Stilbereiche macht sich in den Orchesterstücken ausdrücklich hörbar. Bereits die Titel deuten das an: Es handelt sich um drei Charakterstücke, nicht um symphonische Zusammenhänge. Am ehesten kommt noch das dritte Stück, ein ‚Marsch‘, in die Nähe eines Mahler‘schen Symphoniesatzes (man denkt unwillkürlich an die sechste Symphonie). Die anderen beiden Stücke, das ‚Präludium‘ und das mittlere mit dem Titel ‚Reigen‘, sind zwar ausladender intendiert als die Aphorismen der Altenberg-Lieder, dauern aber zusammen kaum länger als der ‚Marsch‘, in dem die bevorstehende welthistorische Katastrophe thematisch wird. Hier findet Bergs Bewunderung für gerade die Symphonien Mahlers, die als die unzugänglichsten gelten, nämlich die dritte und namentlich die sechste mit ihrem Marschtonfall am Rande des Abgrunds, ihre konkrete kompositorische Einlösung.

Nirgends sonst hat sich Berg unbotmäßiger dem wuchernden Chaos eines gleichwohl höchst planvoll organisierten Riesenorchesters überlassen, das, wie unter einem Vergrößerungsglas, wild verzweigte Dichte musikalischer Strukturen und Charaktere hervortreibt. Bergs Hang zum Anarchischen schafft völlig neue Formideen; Farbe und Vielstimmigkeit sind die kompositorischen Mittel: „Das erste Orchesterstück ist aus einer Klangidee erzeugt; das letzte hämmert mit dröhnenden Schlägen ausschweifende Vielstimmigkeit zusammen“ (Adorno). Es herrscht eine Auffassung musikalischen Formens, die statt der Entwicklung von Themen deren vorzeitliche Geburt aus dem Geräusch heraus (im ‚Präludium‘) oder aus abgestandenem Floskelmaterial (im ‚Marsch‘) darstellt. Formen heißt bei Berg seit den Orchesterstücken: Übereinandertürmen, auch wenn es die Apperzeption sprengt. Mit Recht bezeichnete Berg die Partitur seiner Orchesterstücke als die komplizierteste aller je geschriebenen – und das gilt übrigens auch noch heute. Was er den Hörern da zumutet, wusste er selber nur zu genau: „Als er mir die Partitur zeigte und erläuterte, meinte ich, unterm ersten graphischen Eindruck: ‚Das muss klingen, wie wenn man Schönbergs Orchesterstücke und Mahlers neunte Symphonie zugleich spielt.‘ Nie werde ich das Bild der Freude vergessen, die das für jedes Kulturohr bedenkliche Kompliment auf seinem Gesicht entzündete. Mit einer Wildheit, die alle johanneische Sanftmut lawinengleich unter sich begrub, sagte er: ‚Ja, da müsste man einmal hören, wie ein Blechbläserakkord von acht verschiedenen Tönen wirklich klingt‘, so als wäre er gewiss, dass kein Publikum solche Akkorde überleben dürfte“ (Adorno). Die katastrophische Selbstbefreiung der Musik, von der seit John Cage so viel Aufhebens gemacht wird, ist in Bergs Drei Orchesterstücken, aus dem Zwang des Ausdrucksbedürfnisses heraus, Klang geworden.
Das ‚Präludium‘ ist weder bloße ‚Einleitung‘ noch gar locker gestaltet, wie man es von solcher Form erwarten könnte; es realisiert eine singuläre Formidee: wie sich Musik aus dem Geräusch heraus zu regen beginnt, sich allmählich motivisch und thematisch bis hin zum Auftürmen thematischer Kombinationen (Höhepunkt Takt 36) entfaltet, dabei ihre eigene Analyse gleich mitvollzieht, um dann wieder ins Geräusch zurückzusinken. So fasst Berg den Charakter des Präludierenden auf.

Der ‚Reigen‘ darauf bietet dann keine bequemen Tanzcharaktere, die der harmlose Titel untertreibend erwarten lassen könnte, sondern eine unersättliche Fülle von Walzer- und Ländlergestalten, eine trauriger als die andere, die zu künstlichem Leben erweckt werden. Stellenweise klingt es wie in Alpträumen, wie sonst nirgends in der Musik. Immer wieder bricht die Entwicklung ab, gerät die Musik in ein sonderbares Brüten, rafft sich dann
„schwungvoll“ (Bergs Partituranweisung), ja „fast roh“ (Takt 50) auf, vermag aber die Vergeblichkeit solcher Aufschwünge nicht zu mildern. Die Auflösungsfelder, in die sich der Reigen von Walzergestalten immer wieder verliert, sind die charakteristischen Stellen des Stücks. Schließlich bleibt die Musik auf einem elfstimmigen Akkord regelrecht stehen, in den – ähnlich wie so oft bei Mahler – eine Hörner-Fanfare „wie aus der Ferne“ hereintönt, aber nicht als zitierte Uneigentlichkeit, sondern vielmehr als störende Verfremdung: Die Fanfare enthält weder den gewohnten Quartauftakt noch den Dreiklangsruf, stattdessen ist sie schief montiert aus verschränkten Quart- und Tritonusgebilden. Und der elfstimmige Akkord, in den sie hineintönt, wird in dem stockenden Rhythmus vorgetragen, der das ‚Präludium‘ beherrschte. Die unterirdische Verknüpfung der beiden ersten Stücke, die, laut Bergs Anweisung, auch allein, ohne den ‚Marsch‘, aufgeführt werden können, ist hier offen auskomponiert.

Der ,Marsch‘, das ungeheuerlichste Stück in der Musik des 20. Jahrhunderts, vollstreckt Bergs Idee des musikalischen Formens als Fülle nichtiger Gestalten, die zu einem Sinnzusammenhang zusammenschießen. So beginnt er gleich mit vier versprengten Marschfloskeln aus alter Zeit oder wie aus Träumen. Aus solchem Material fügt Berg den blinden Vollzug der Marschstrophen, die – im Gegensatz zur Kreisform des ‚Präludiums‘ - nur noch zur Katastrophe führen können. Unablässig geht es vorwärts. Es gibt keine Reprisen mehr, nur den Sog ins Niemandsland: „Das Gedächtnis an die herkömmliche Marscharchitektur, an Marschstrophen, Trios, Wiederkehr der Strophen, ist traumhaft verschoben und verblasst“ (Adorno). Wie in beklemmenden Angstträumen werden Fluchträume übereinandergetürmt, erscheinen trügerische Flächen der Beruhigung, aus denen es umso heftiger wieder ausbricht. Es gibt kein Entrinnen. In panischem Schreck landet der Marsch in einer keuchenden Coda (Takt 155), aus der sich der zwölfte Takt des ‚Präludiums‘ und der Takt 115 des ‚Reigens‘ buchstäblich herausquälen. Ein letztes ‚subito a tempo‘ ist dann zugleich das Ende: Ein erneuter Marschansatz wird von einem Mahler‘schen Hammerschlag – Erinnerung an die drei Hammerschläge aus dem Finale der sechsten Symphonie? – zertrümmert. Danach wird wohl kein authentischer Marsch mehr geschrieben werden können.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.