Der Wein – Konzertarie mit Orchester

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t1 Konzertführer
Alban Berg
Der Wein – Konzertarie mit Orchester

Die erfolgreichen Aufführungen der Orchesterfassung der Sieben frühen Lieder im Winter 1928/29 brachten die Sängerin Ruzena Herlinger dazu, bei Berg „eine große Arie oder Kantate im modernen Stil, wie Mozart so viele hatte“ zu bestellen. Berg war im Frühjahr 1929 mit der Texteinrichtung seiner Wedekind-Oper Lulu fertig geworden und wollte im Sommer mit der Komposition beginnen. Nun kam, wie später im Fall des Violinkonzerts, der Auftrag dazwischen, aber er war Berg gar nicht so unrecht, denn so konnte er eine Art Vorstudie zur Lulu komponieren, und das in doppelter Hinsicht: Die Kompositionstechnik und die musikalische Haltung der Oper war geplant als konsequente, wenn auch sehr eigenwillige Anwendung der Schönberg‘schen Zwölftontechnik und der verschiedensten Stillagen bis hin zur Sphäre des „Banalen“. Bergs stilistischer Synkretismus griff nun ins Grundsätzliche. Um das realisieren zu können, wählte er für die Konzertarie einen Text aus dem Ursprung der literarischen Moderne, von Charles Baudelaire, allerdings in der etwas gespreizten Übersetzung Stefan Georges. Bereits in dieser Textwahl setzte sich Berg deutlich von Schönberg und Webern ab, die sich niemals mit dem Problem der phantasmagorischen Erscheinung der Warenwelt in der gebrochenen Assimilierung der Banalität abgegeben haben. Und es ist erstaunlich genug, dass Berg in seiner ersten Zwölftonkomposition größeren Umfangs – die Lyrische Suite war ja nur zum Teil zwölftönig komponiert – gleich die Stilpalette differenzierter mischte und die Schönberg‘sche Technik gewissermaßen uneigentlich handhabte, indem er bereits die Reihe selbst als Kombination von d-moll und Ges-dur anlegte, was ihm die Möglichkeit gab, tonale Akkorde zu bilden, allerdings auf künstlicher Ebene.

Ebenso künstlich wirkt der Gebrauch der Unterhaltungsmusik jener Zeit: Tango-Rhythmen und gewisse schwüle Nonenakkorde, die auch an Debussy erinnern, wie überhaupt die ganze Arie eher aus der französischen als aus der Schönberg‘schen Musik zu kommen scheint. Die tonalen und sogar polytonalen Einschläge stehen quer zu der strengen Zwölftontechnik, aber diese Gebrochenheit stiftet den besonderen ‚Ton‘ der Arie. Wie die Koloraturpartie der Lulu, die ein „Ballett der Stimme“ (Adorno) aufzuführen hat, so ist auch die Gesangstimme der Weinarie kunstvoll verfremdet zu einem virtuosen Instrument. Die Künstlichkeit steigerte Berg noch dadurch, dass er die gesamte Partie als eine ‚Ossia‘-Vertonung anlegte; der Text kann sowohl in der Originalsprache als auch in Georges Übertragung gesungen werden. Dem Wunsch der Auftraggeberin, eine Konzertarie zu erhalten, kam Berg mit einer produktiven Umdeutung der alten Dacapo-Anlage nach: Die drei Gedichte aus dem fünfteiligen Zyklus Le vin, erstmals 1857 in Baudelaires Fleurs du mal erschienen und 1901 von George übertragen, bilden den Ausgangspunkt für eine große dreiteilige Reprisenform – die Reprise im Mahler‘schen Sinn als Variante des ersten Teils ausgeführt –, deren Mittelteil (‚Der Wein der Liebenden‘) ein Scherzo mit zwei Trios ist und die Stelle der Durchführung vertritt.

Das zweite Trio (‚Wir lehnen uns weich auf den Flügel des Windes‘) und die Scherzo-Wiederholung (‚Beide voll gleicher Lust lass Schwester uns Brust an Brust flieh‘n ohne Rast und Stand in meiner Träume Land!‘) sind auf zwei spiegelbildlich angelegte Abschnitte verteilt. Der erste enthält die Wortvertonung, der zweite das instrumentale Nachspiel als deren getreue Krebsform mit der Singstimmenmelodie in der Trompete. Diese Spiegelungsidee ist sicher ein Reflex Bergs auf die im Text angesprochene Phantasmagorie, im Sinne einer Luftspiegelung etwa. Die verkürzte Reprise (‚Der Wein des Einsamen‘) stellt eine bemerkenswerte textliche Beziehung her zur musikalischen Exposition (‚Die Seele des Weines‘), die sich allein der Textwahl und -zusammenstellung Bergs verdankt: Da Berg das fünfte Gedicht Baudelaires als Scherzo vor das vierte gesetzt hat, ergibt sich eine Parallele des vierten Gedichts zum ersten, indem die Anspielungen auf die Verführungen durch Wein, Weib und Kartenspiel eine Reprise zum Realismus der Exposition, inhaltlich: der Vorstellung des Weines selbst, bilden. Wie immer bei Bergs Textvertonungen gehen dramaturgische Überlegungen von textlichen und musikalischen Bedürfnissen in dialektischer Weise aus und führen so zu einer doppelten Bestimmung der Form, in der sich genau geplanter Ablauf und inhaltliche Konkretion ununterscheidbar vermischen. In der Weinarie legte Baudelaires „tödliche Melancholie“ (Adorno) eine Reprisenform nahe, die mit dem künstlich hervorgezauberten d-moll des Anfangs auch ihr verlöschendes Ende findet.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.