Es gab keinen langen Vorlauf zur Erstaufführung des Weihnachtsoratoriums: Bach hat sich in dieses Projekt regelrecht hineingestürzt. Vermutlich spielte sich das meiste, wenn nicht alles, zwischen Oktober und Weihnachten 1734 ab.
Natürlich ließ sich in diesem knappen Zeitraum ein sechsteiliges Oratorium nicht von A bis Z neu komponieren. Vielmehr griff Bach im Sinne seines gewohnten Parodieverfahrens auf drei weltliche und eine kirchliche Kantate zurück. Die notwendigen Umtextierungen besorgte vermutlich sein Librettist Picander, der dabei vor allem in den drei ersten Teilen des Werks großes Geschick bewies. Und Bach selbst ließ es sich nicht nehmen, als Komponist neben der “Pflicht” auch eine Art “Kür” abzuliefern. Denn er komponierte nicht nur die Teile neu, die er nicht aus seinen weltlichen Vorlagen übernehmen konnte, nämlich die biblische Weihnachtsgeschichte, die weihnachtlichen Choräle und die verbindenden Accompagnato-Rezitative über freie Dichtung. Vielmehr ließ er sich auch zu einer instrumentalen Sinfonia inspirieren, die als “Pastorale” im wiegenden 12/8-Takt zum Inbegriff einer weihnachtlich getönten Hirtenemusik geworden ist.
Der Beginn des zweiten Teils von Bachs Weihnachtsoratorium: die "Sinfonia”.
Der Eile, mit denen Bach den Leipzigern in Gestalt des Weihnachtsoratoriums ein “großes” Werk zu präsentieren gedachte, könnte eine aktuelle Verbitterung zu Grunde gelegen haben: Just Anfang November des Jahres 1734 hatte der Vorsteher der Thomasschule die Wahl eines neuen Rektors zum Anlass genommen, sich beim Rat über den Kantor Bach zu beschweren, welcher „gar nicht in der Schuhle thäte, was ihme zu thun abliege“. Da mag es dem Gescholtenen gefallen haben, mit künstlerischen Waffen zurückzuschlagen – nämlich mit einem umfänglichen Oratorium. Zu dessen „Kürzung“ hatte Albert Schweitzer seinerzeit einen originellen Vorschlag:
»Zum Zwecke kirchlicher Volksaufführungen kann man getrost nahezu alle Arien streichen, ohne dass dabei ein Torso entstünde; vielmehr kommt auf diese Weise die Handlung nur desto schöner und klarer heraus.«
Blieb genug Zeit zum Proben? Bach war so klug gewesen, auf vier Kantaten zurückzugreifen, die er sämtlich im Laufe des zurückliegenden Jahres aufgeführt hatte. Schon im Sinne der Arbeitsökonomie lief daher alles darauf hinaus, für das Weihnachtsoratorium nach Möglichkeit dieselben Kräfte zu verpflichten, die schon zuvor mitgemacht hatten. Demnach könnten die Sänger der Thomasschule im wesentlichen außen vor geblieben sein; denn die von ihm ausgeschlachteten weltlichen Kantaten hatte Bach ja mit seinem Collegium musicum aufgeführt, also ohne Beteiligung jüngerer Sängerknaben. Fazit: So ansprechend heutige Aufführungen des Weihnachtsoratoriums mit Knabenkantoreien sein mögen – Bach mag vor allem mit Falsettisten gearbeitet haben. ¶