An diesem ersten Weihnachtsfeiertag vereinen sich fremdgewordene Völker durch die Kraft der Musik. Schöner und kitschiger hätte man diese Geschichte wirklich nicht ausdenken können, die sich 1989 im Ostberliner Schauspielhaus, also in der ehemaligen DDR abspielt. Orchestermusiker aus Paris, London, Sankt Petersburg, New York und Berlin werden zusammengeführt vom Dirigentenweltstar Leonard Bernstein. Sie spielen, wie könnte es anders sein, Ludwig van Beethovens neunte Symphonie: Die Ode an die Freude, oder in diesem Fall „an die Freiheit“.
4. Satz, "Ode an die Freiheit": Bernstein dirigiert 1989 in Berlin
Statt von „Freude“ lässt Bernstein seine Sänger zu diesem speziellen Anlass dann nämlich immer von „Freiheit“ singen. Ist das nicht ein bisschen Gotteslästerung? Einige Kritiker fanden das anmaßend. Der Stimmung entspricht es allemal. Europa befindet sich nach Jahren des Kalten Krieges in Aufbruchstimmung, beinah schon „Freudetrunken“.
Und Bernstein selbst weiß sich zu verteidigen gegen die kleinkarierten Kritiker und verweist auf die Schiller-Forschung, die sich durchaus ein zweites Fragment mit dem Titel „An die Freiheit“ vorstellen kann. Und selbst wenn nicht, steht Lenny zu seiner Veränderung:
»Ob wahr oder nicht – ich glaube, dies ist ein Augenblick, den der Himmel gesandt hat, um das Wort 'Freiheit' immer dort zu singen, wo in der Partitur von 'Freude' die Rede ist. Wenn es je einen historischen Augenblick gegeben hat, in dem man um menschlicher Freude willen eine akademische Theorie-Diskussion vernachlässigen darf – jetzt ist er gekommen, und ich bin sicher, dass Beethoven uns seinen Segen gegeben hätte. Es lebe die Freiheit!«
Der Dirigent, dem als Menschenfreund der Fall der Berliner Mauer besonders nahegeht, spielte übrigens einige Tage zuvor dasselbe Programm auch in der Philharmonie in West-Berlin. So festigt er, ein Jahr vor seinem Tod, seinen Ruf als weltoffener Musikaktivist, der zu diesem Weihnachtsfest die ganze Welt, aber das wiedervereinte deutsche Volk im besonderen, mit einer symbolträchtigen Musik beschenkt.
Auf Berliner Plätzen versammelten sich tausende Menschen um die Liveübertragung des Konzerts anzusehen: Bewegt, still und andächtig. ¶