Der Mann war schon zu Lebzeiten ein Monument. Nicht nur im übertragenen Sinn als moralische Instanz, ästhetischer und politischer Unruheherd und europäisches Gewissen, sondern auch in seinen Gesichtszügen: Er sah aus wie sein eigenes Denkmal. Der große Kopf, der mächtige, aber gepflegte Bart, der kluge und skeptische Blick, mit dem er vielleicht verständnisvoll auf die Menschheit blickt, aber sicher nicht unbedingt auf die einzelnen Menschen. Leicht hat er es sich und den anderen nie gemacht, hat seinen Zeitgenossen dicke Bücher zu lesen und wilde Theaterstücke zu schauen gegeben und hat sie mit politischen Kehrtwendungen überrascht. Er ist Royalist unter den Bourbonen, dann Liberaler, Revolutionär von 1848, Anhänger von Louis-Napoléon Bonaparte, doch er wechselt nach dessen Staatsstreich die Seiten und wird vom neuen Kaiser auf die britischen Atlantikinseln verbannt. Nach dessen Sturz stellt er sich an die Seite der Pariser Kommune, was ihm viel Ärger einbringt. Er engagiert sich für soziale Fragen, spricht sich für eine deutsch-französische Verständigung und ein geeintes Europa aus. Victor Hugo war in vieler Hinsicht ein Visionär.
Eindrucksvolle Gestalt: Hugo
(Foto: Public Domain)Aber auch ein Visionär hat blinde Flecken. Im Fall von Victor Hugo zählte dazu die Musik. Musiker waren in seinen berühmten Gesellschaften selten willkommen. Hugo steht beispielhaft für die französische Tradition, das Dichterwort weit höher zu schätzen als die Musik. Seine Lieblingskomponisten waren Gluck und Beethoven, wogegen nichts zu sagen ist; seltsam ist nur, dass er Gluck turmhoch über Mozart stellte. Über eine Aufführung des Mozart-Requiems sagte er:
„Schöne Musik, aber sie hat schon Falten. Ach, die Musik wird so leicht faltig. Eigentlich ist sie gar keine Kunst.“
An Hugos Leben und Werk versteht man bis heute – wie sonst nur noch an seinem englischen Kollegen Lord Byron – die europäische Romantik. Es ist eine Ästhetik des Zuviel: Hugos Romane sind zu lang, seine Gedichte zu pathetisch, seine Theaterstücke zu grell und zu blutig. Die Ironie der deutschen Romantiker ist Hugo fremd, seine Texte sind Ehrfurcht einflößend, aber komplett humorlos. Gerade in den Stücken setzt er auf die Überwältigungsmittel der Oper. Kein Wunder also, dass die Komponisten Hugo schätzten, auch wenn das nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Die berühmteste Oper nach einem seiner Dramen, Verdis Rigoletto (nach der Tragödie Le Roi s’amuse) wollte Hugo ohne Erfolg gerichtlich verbieten lassen. Donizetti vertonte Lucrèce Borgia, Verdi Hernani, Mendelssohn schrieb eine Ouvertüre zu Ruy Blas. Unzählige Opern und Ballette kleinerer Meister sind nach seinen Stücken und Romanen entstanden. In unserer Zeit eroberten die Romane Notre-Dame de Paris und vor allem Les Misérables die Musical-Bühnen. Die häufigen Anfragen vor allem aus Deutschland, seine Gedichte vertonen zu dürfen, beantwortete Hugo immer gleich: maximal drei Gedichte, die Einnahmen aus den Rechten sind wohltätigen Zwecken zuzuführen.
Im Mai 1885 ging dem großen Kämpfer Victor Hugo die Kraft aus. Er starb am 22. Mai mit 83 Jahren. Sein Begräbnis am 1. Juni wurde eine machtvolle Demonstration der jungen Dritten Republik. Zwei Millionen Menschen folgten dem Trauerzug vom Arc de Triomphe zum Panthéon. Musik gab es auch: die Marseillaise, immerhin. ¶