Revolution! Jahrhundertlang musste man gegen irgendwelche Gegenstände schlagen, an ihnen entlang ratschen, in sie hineinblasen oder zupfen, um Musik zum klingen zu bringen. Damit war jetzt Schluss. Das Instrument, dass Lew Termen am 5. August 1920 auf einer Moskauer Industriemesse vorstellte, muss nicht angefasst werden, um Klänge zu erzeugen. Die bisher scheinbare, physikalische Notwendigkeit, dass eine Berührung zwischen Mensch und Instrument stattfinden muss, löste sich mit einem mal in Luft auf – oder besser gesagt in die darin gezeichneten Gesten. Als würde ein Magier die Seele der Musik beschwören, huschen die Hände der Virtuosen über einem Kasten hin und her, zucken leicht die Finger, schieben sich die Arme mal vor, mal zurück, mal fließend, mal abgehakt. Und Musik erklingt. Also wie von Geisterhand?
Nicht ganz. Über zwei Antennen erzeugt das Instrument zwei Magnetfelder, die vom Körper des Instrumentalisten verändert werden. Vor allem mit der Hand, aber der Oberkörper hat den gleichen Einfluss, wenn er den Antennen nahe genug kommt. Auch ein geschüttelter Kopf oder ein wackelnder Fuss erzeugt innerhalb der Felder einen Ton – Hauptsache, die magnetischen Felder verändern sich. Innerhalb des Kastens wirken diese Veränderungen auf schwingende Radioröhren, die, über einen Verstärker abgenommen, den Ton erzeugen. Zwei Magnetfelder, zwei Hände: Während die eine um die aufrechte Antenne tänzelnd die Tonhöhe bestimmt, definiert die andere die Lautstärke.
Ein modernes Theremin. Foto: Hutschni/Wikimedia Commons unter Verwendung der CC-Lizenz.
An jenem 5. August 1920 präsentiert Lew Termen also seine Erfindung, die er noch Ätherophon nennt, später allerdings Thereminovox und letztendlich Theremin, worunter man das Instrument heute kennt. Termen ist nicht nur Physiker – sein Studium hatte er als Celloschüler am Konservatorium begonnen. Dank dieser beiden Leidenschaften entsteht das erste nutzbare elektronische Musikinstrument, das gemeinsam mit dem Ondes Martenot, des Franzosen Maurice Martenot und dem Trautonium des Deutschen Friedrich Trautwein, die alle zwischen 1920 und 1930 entstehen, zum Vorreiter aller heutigen Synthesizer wird.
Termen und seine legendäre Erfindung
(Foto: Public Domain)Einige Jahre später geht er nach Amerika und arbeitet dort viel mit Clara Rockmore zusammen, der bekanntesten Theremin-Virtuosin der ersten Jahrzehnte. Sie hatte ursprünglich Violine in St. Petersburg studiert, musste aber wegen Knochenproblemen aufhören. Die hinderten sie dagegen nicht, das damals neue, “berührungslose” Instrument zu erlernen. Ihre frühe, sehr gute musikalische Ausbildung, ihr absolutes Gehör und ihre durch das Geigenspiel schnellen Finger brachten alle Voraussetzungen für die Theremin-Meisterschaft mit. Zusammen mit ihr feilt Termen, der sich in den USA Leon Theremin nennt, an seiner Erfindung, entwickelt sie weiter, macht sie praktikabler.
Der Erfinder und die Solistin: Clara Rockmore and Lew Termen 1929
(Foto: Public Domain)Und selbstverständlich beginnen Komponisten das Theremin einzusetzen: beispielsweise Bohuslav Martinů oder später Fazil Say wie in seiner Mesopotamia Symphony.
1. Satz der 2. Symphony von Fazil Say: Einsatz des Theremin bei Minute 1:45
Auch Theremin-Sonaten gibt es. Hier zeigt das Theremin viele Facetten: Weite Gesangslinien, solide Bassstimme bei Minute 2:50 und feine Artikulation.
Zurück in Russland gerät Termen dann in Gefangenschaft des KGB, wird wegen antisowjetischer Propaganda angeklagt und kehrt erst viele Jahrzehnte später wieder in die Öffentlichkeit zurück. Seine Erfindung wird zwischenzeitlich, so wie er, weitestgehend unbekannt, das Physikalisch-Technische Institut von St. Petersburg leugnet sogar jahrelang, jemanden mit seinem Namen als Mitarbeiter beschäftigt zu haben.
Vielleicht auch deswegen denken wir heute selten an jene Umstürze in der Musikinstrumententechnik, die der Welt nicht nur den Weg hin zu der elektronischen Musik ebnete, sondern uns auch bewies, dass wir Musik berührungslos erzeugen können. Eigentlich eine Revolution. ¶