Musikgeschichten: 15. September (1827)

Hector und Harriet: Ein großes Drama

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Holger Noltze
Holger Noltze
15.09.2018

Ich komme nun zum größten Drama meines Lebens“, beginnt, ziemlich spannungsfördernd, Hector Berlioz das 18. Kapitel seiner insgesamt ziemlich spannenden Memoiren. Es ist das Kapitel, in dem er berichtet, wie er Mitte September 1827 mit seinen gleichgestimmt romantisch aufgeladenen Freunden im Pariser „Odéon“-Theater einen ästhetischen Doppelschlag erfährt: Er sieht zum ersten Mal Shakespeares Hamlet und Romeo und Julia, und er sieht die englische Starschauspielerin Harriet Smithson als Ophelia und Julia.

»Die Wirkung ihres außergewöhnlichen Talents oder vielmehr ihres dramatischen Genies auf meine Phantasie und auf mein Herz lässt sich nur mit der Erschütterung vergleichen, die mir der Dichter verursachte, dessen würdige Interpretin sie war.«

 

Berlioz, Memoiren, Kap. XVIII.

Harriet Smithson

Harriet Smithson, 1830.

(Foto: Public Domain)

Diese Wirkung auf den 24-jährigen beschreibt Berlioz im Rückblick als Blitzeinschlag: „es schmetterte mich zu Boden“. Miss Smithson war nicht weniger als eine Erleuchtung, die dem jungen Genie allerdings zunächst das Licht ausknipst, ihn in geistige Lethargie stürzt, ihn tagelang ziellos durch die Straßen von Paris laufen lässt, bis er nicht mehr kann und in einen todesähnlichen Schlaf sank, dann schläft er irgendwo auf freiem Feld vor der Stadt oder am Tisch eines Cafés, wo ihn die Kellner nicht wagen anzurühren, aus Angst, er sei tot.

»Diese Frau werde ich heiraten. Und über dieses Drama meine größte Symphonie schreiben.«

Geträumte Ballszene: "Un bal" aus der "Symphonie fantastique"

Soweit der Plan, und er ging in Erfüllung. Drei Jahre später konnte Harriet Smithson die Symphonie fantastique hören, fünf Jahre nach den Abenden im Odéon und unzählige unbeantwortete Liebesbriefe später waren Hector und Harriet ein Paar. Aber wie nicht selten, wenn Pläne aufgehen und Wünsche sich erfüllen: Es wurde kein Glück für die beiden. Man heiratet, man trennt sich. Ein Drama, aber keine gute Geschichte.

Am Ende seiner Memoiren malt Berlioz in leuchtend grausigen Farben die Exhumierung seiner ersten Frau aus. Es können einem die Haare zu Berge stehen, zu lesen, wie die Reste der Harriet Smithson, die eine der größten Shakespeare-Darstellerinnen ihrer Zeit gewesen war, seine Julia, umgebettet werden auf den neuen Friedhof von Montmartre. Hier liegt schon seit zwei Jahren auch seine zweite Gattin. Zwischen seinen toten Frauen steht Berlioz’ eigene Grabstätte schon bereit und wartet darauf, „dass auch ich dieser Leichengrube meinen Anteil an Verwesung beisteuere.“ So endete das Ganze als Schauerstück. ¶

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