KESTINGS FLASCHENPOST: KLEINE SCHULE DER GESANGSKUNST

Vom Himmel gefallen

Zurück

Es existiert kein Instrument, das sich der menschlichen Stimme vergleichen ließe, fand schon William Byrd. Ob uns ein Gesang anspricht oder nicht, ist meist schnell klar; aber schwer zu sagen, warum. Jürgen Kesting, takt1-Kolumnist und einer der international führenden Experten der Gesangskunst, führt hier in diesen „Flaschenposten“ in das kleine und große Einmaleins des Kunstgesangs ein. In loser Folge geht es ums Wesentliche: um technische Themen, um zentrale Werke, vor allem aber um große Sängerinnen und Sänger. Ihre Aufnahmen, nicht wenige mehr als hundert Jahre alt, sind Flaschenpost einer vergangenen Zeit, nicht selten lehrreich fürs Heute.

Jürgen Kesting
Jürgen Kesting
15.09.2021

Die Oper, heißt es in Franziska Martiessen-Lohmanns Gesangslexikon Der wissende Sänger, ist die „Kunstgattung der Gemeinsamkeit. Nur als Ensemblekunstwerk kann sie ihre künstlerische Gültigkeit erlangen“. Damit zur Fortsetzung der in der letzten Flaschenpost aufgeworfenen Frage nach der Kunst des Duett- und Ensemblegesangs. Voraussetzung dafür sind monatelange Proben und die dadurch erworbene Vertrautheit mit den Stimmen der Partnerinnen und Partner. Dass dabei Duette zu Duellen führen, ist etwa in einer Aufführung von Puccinis Turandot in der Mailänder Scala zu erleben, wenn Birgit Nilsson und Franco Corelli im Duett nach der Arie In questa reggia in der Phrase „Gli enigmi sono tre, una è la vita“ die Grenzen ihrer Atemtechnik herausfordern.

6a00d8341c4e3853ef015433b00034970c 800wi

Im Duell: Birgit Nilsson und Franco Corelli in der Produktion von Puccinis Turandot an der Mailänder Scala, 1966.

(Foto: Public Domain)

Man mag dies belächeln, und man kann es bestaunen. Aber wirklich zu bewundern ist es, wenn eine Sopranistin mit einer zart-fluiden, in allen Pastelltönen schimmernden Stimme sich im Duett zwischen der Gräfin und Susanna aus Mozarts Le Nozze di Figaro neben einer klangreicheren Stimme behaupten muss. „Ich fürchtete“, so sagte Emma Eames vor der Aufnahme mit Marcella Sembrich, „dass ihre zart–delikaten Töne im Klang meiner größeren Stimme ertrinken würden.“ Ganz im Gegenteil, dies geschah nicht. Henry T. Finck (My Adventures in the Golden Age) notierte: „Es war, mit geschlossenen Augen, beinahe unmöglich, zu erkennen, wer gerade sang, so erstaunlich ähnlich waren beide Stimmen hinsichtlich Timbre und goldener Reinheit“. Entscheidend ist, dass diese Klangverschmelzung situativ richtig ist: die Gräfin und Susanna vollziehen einen Rollentausch, bei dem eben nicht nur die Kleider gewechselt werden. Es ist ein höchstwertiges Beispiel eines ästhetisch vollendeten und szenisch schlüssigen Singens.

Vollendet: Marcella Sembrich und Emma Eames im Duett von Susanna und Gräfin in Mozarts „Le Nozze di Figaro“.

Im Kapitel Fülle des Wohllauts aus Thomas Manns Der Zauberberg lauscht der verzauberte Hans Castorp einem Duett: geführt von einer weltberühmten Tenorstimme, die sich in den „Künsten der Leidenschaften“ verströmt, und einem „glashell-süßen Sopran“. Es geht um die zarte Gefühlsannäherung zwischen Mimì und Rodolfo in La Bohème. Die Sänger der Platte von 1907 sind Nellie Melba und Enrico Caruso. Stilistisch haben die beiden unterschiedliche Wurzeln: Die australische Sopranistin kam aus der Belcanto-Schule von Mathilde Marchesi, der neapolitanische Tenor war von der Musik der scuola nova geprägt. Einen Zusammenklang zu finden, oder besser: einen seelischen Einklang, wurde erschwert, da die damalige Aufnahmetechnik zwar dem Frequenzbereich der Tenorstimme gerecht wurde, aber noch nicht dem der Sopranstimme. Umso erstaunlicher, dass der glashell-süße Klang des Soprans von dem weich-strömenden Klang des Tenors wie von einem samtenen Handschuhe umhüllt ist. Und das mondlichtig schimmernde hohe C am Ende des Duetts bestätigt den Eindruck des Kritikers Willam J. Henderson, dass die hohen Töne der Melba ansatzlos wie vom Himmel fielen. Wie herrlich endlich, dass Caruso in der Schlussphrase auf dem Liegeton bleibt.

Nellie Melba und Enrico Caruso singen „O Soave Fanciulla” aus Giacomo Puccinis „La Bohème”.

Wie Nellie Melba kam die Sopranistin Francis Alda aus der Schule der Marchesi. Der Bass Marcel Journet war ein Absolvent des Pariser Schule, über seinen oder seine Lehrer ist wenig bekannt. Ein Beispiel, wie drei Sänger von stilistischer unterschiedlicher Herkunft jene „Gemeinsamkeit“ finden können, ist das Terzett Qual voluttà aus Giuseppe Verdis I Lombardi. Die Oper ist an der Met nie aufgeführt worden. Gründe für die Aufnahme zu finden ist kaum möglich, aber es ist kaum vorstellbar, dass die drei Sänger die Musik einfach nur vom Blatt gesungen haben. Abgesehen davon, dass auch in dieser Aufnahme von 1912 die Sopranstimme frequenzechnisch benachteiligt ist, kann man nur staunen über die Homogenität und den Einklang der Stimmführung: über die Meisterschaft, wie die Stimmen jeweils die melodische Führung übernehmen und dann verschmelzen oder wie die Stimme des Basses gleichsam für einen klanglichen Orgelpunkt sorgt. Kaum fassen endlich, wie Carusos Stimme am Ende auf dem hohen H emporsteigt und heller leuchtet als die des Soprans.

Das Terzett „Qual voluttà trascorrere“ aus Verdis „I Lombardi“, mit Franes Alda, Enrico Caruso und Marcel Journet.

Man wird diese einzigartige Platte umso höher schätzen, wenn man hört, wie Benjamino Gigli diese Musik – mit Elisabeth Rethberg und Ezio Pinza als Partnern – mit Verismo-Seufzern überzuckert. ¶

Ein strahlendes hohes H bei Caruso, Verismo-Zucker bei Benjamino Gigli. Das Terzett „Qual voluttà trascorrere“ mit Elisabeth Rethberg und Ezio Pinza.

2.000+ ausgewählte Videos
Regelmäßige exklusive Live-Konzerte aus aller Welt
Täglich neue Musik-Geschichten
Konzertführer
CD-Empfehlungen
Keine Werbung