Es existiert kein Instrument, das sich der menschlichen Stimme vergleichen ließe, fand schon William Byrd. Ob uns ein Gesang anspricht oder nicht, ist meist schnell klar; aber schwer zu sagen, warum. Jürgen Kesting, takt1-Kolumnist und einer der international führenden Experten der Gesangskunst, führt hier in diesen „Flaschenposten“ in das kleine und große Einmaleins des Kunstgesangs ein. In loser Folge geht es ums Wesentliche: um technische Themen, um zentrale Werke, vor allem aber um große Sängerinnen und Sänger. Ihre Aufnahmen, nicht wenige mehr als hundert Jahre alt, sind Flaschenpost einer vergangenen Zeit, nicht selten lehrreich fürs Heute.
Wenn in den Opern von Verdi Abschied genommen wird von der Welt oder ein Todesgesang angesagt wird, sind die Vortragsanweisungen zwar meist technisch gehalten – wie für das Duett „Parigi o cara“ aus La Traviata – , doch haben sie eine musikalisch-expressive Bedeutung. Wenn der Titelheld in Wagners Tannhäuser im zweiten Akt zur Einsicht gebracht wird, dass sein Lobgesang auf den Venusberg eine Sünde war, muss er nach der Vorstellung des Komponisten alle „Energie des Schmerzes und der Verzweiflung“ für einen Ausdruck finden, „der aus der schauerlichsten Tiefe eines furchtbar leidenden Herzens, wie ein Schrei nach Erlösung hervorzubrechen scheint“: Viermal muss er in der Erlösungsbitte „Erbarm dich mein“ das hohe A singen. Singen? Nein. Der Ton soll „mit allen Nerven der Brust herausgeschleudert werden“. Dem Komponisten schwante, dass „bloßes Befassen mit der Aufgabe schon hinreichen kann, den Sänger über sich in Unruhe zu versetzen“. Ja, Wagner kennt alles – nur kein Maß.
In den vielen Aufführungen verwandelte sich Tannhäusers Phrase in eine Bitte, die der geplagte Sänger an das Publikum richtete. Wagner selber hat die Titelpartie als die schwierigste aller Aufgaben bezeichnet, die er seinen Tenören zugemutet und sie damit meist wohl auch überfordert hat. Eine kürzliche Hamburger Aufführung mit Klaus Florian Vogt, der diese Aufgabe bravourös bewältigt hat, war die Anregung für die Erinnerung an einen Sänger, der wie kein anderer den großen Wunsch Wotans erfüllte: „Not tut ein Held.“ („Die Walküre“, Akt II, Gespräch Fricka-Wotan).
Der Tenor Lauritz Melchior als „Tristan“ bei den Bayreuther Festspielen.
(Foto: Public Domain)Die Rede geht von einem Tenor, der die Partie des Tristan 223 Mal gesungen, den Siegmund 183 Mal und die beiden Siegfriede 235 Mal: Lauritz Melchior. Als die Natur ihn schuf, hob sie alle Maßstäbe auf – weder vor ihm und seither hat es einen Tenor gegeben mit einer vergleichbaren Klangfülle gegeben, dunkel in der tiefen und mittleren Lage, brillant und durchdringend in der Höhe. Wie treffend der von Francis Robinson gezogene Vergleich von Melchiors Stimme mit den Niagarafällen ist, ist in einer Walküre-Aufführung der Metropolitan Opera vom 6. Dezember 1941 zu er erleben – oder besser: fassungslos zu bestaunen, wenn Siegmund auf der verzweifelten Suche nach einer Waffe – „Ein Schwert verhieß mir der Vater“ – die beiden Wälse-Rufe, notiert auf ges und g, in einem unendlich gedehnten Crescendo aufleuchten lässt. In diesem Ruf schon wird das Schwert sichtbar, das alsbald, um mit Wagners poetischer Sprache zu sprechen, „im Glimmerschein gleist“. Aber begnügen wir uns nicht nur mit dem Staunen über die gewaltigsten Wogen aus der Niagara-Kehle, sondern auch das Cantabile der Phrase „Selig schien mir der Sonne Licht“ und das Ende des in tiefer Lange endenden Gesangs: „da bleicht die Blüte, das Licht verlischt, nächtiges Dunkel deckt mir das Auge“ – der Sinn der Worte wird in den Schwarzfarben eines Basses zur Klanggestalt.
Die Wälseruf dauern jeweils über 10 Sekunden: Lauritz Melchior singt Siegmunds „Ein Schwert verhieß mir der Vater“ aus Richard Wagners „Die Walküre“.
Hier zeigt sich also, dass Melchior nicht nur mehr stimmliche Reserven hatte als alle anderen Vertreter sein Faches, sondern eine Fülle expressiver Mittel: des verbalen Agierens wie der strikt musikalischen Expression. Der 1890 in Kopenhagen geborene Lauritz Leberecht Hommel hatte in Kopenhagen als Bariton begonnen. Als er im Duett zwischen Luna und Azucena ein C einlegte, regte ihn seine Partnerin – Madame Charles Cahier – dazu an, das Fach zu wechseln. 1924 fand er in Bayreuth eine zeitlang seine neue Heimat, die endgültige dann seit 1926 an der Met, für die er in rund 25 Jahren 519 Aufführungen gesungen hat – eine große Zahl von Broadcasts sind als Mitschnitte erhältlich, darunter mehrere Aufführungen von Tristan und Isolde mit der einzigartigen Kirsten Flagstad. Gewiss muss man in Kauf nehmen, dass die Klangqualität dieser Mitschnitte von den Ohren gleichsam Nachsicht verlangt; aber während wir heute in vielen High-Fidelity-Produktionen High-Infidelity voices zu hören bekommen, erleben wir in den Mitschnitten eben jene „wundersam genialen Darsteller“, wie sie „nur selten zur Welt kommen“ (Wagner). Zum Schluss der Erinnerung an Melchior, der von Toscanini als „Tristanissimo“ bewundert wurde, die kurze Szene, mit der ratlose Tristan auf die bittere Klage Markes ob seines Liebesverrates .... keine Antwort findet. Der lyrische Weh-Laut seines Singens hat orphische Qualität. ¶
„O König, das kann ich dir nicht sagen“ aus Richard Wagners „Tristan und Isolde“ mit Lauritz Melchior und dem London Symphony Orchestra, 1930.