Es existiert kein Instrument, das sich der menschlichen Stimme vergleichen ließe, fand schon William Byrd. Ob uns ein Gesang anspricht oder nicht, ist meist schnell klar; aber schwer zu sagen, warum. Jürgen Kesting, takt1-Kolumnist und einer der international führenden Experten der Gesangskunst, führt hier in diesen „Flaschenposten“ in das kleine und große Einmaleins des Kunstgesangs ein. In loser Folge geht es ums Wesentliche: um technische Themen, um zentrale Werke, vor allem aber um große Sängerinnen und Sänger. Ihre Aufnahmen, nicht wenige mehr als hundert Jahre alt, sind Flaschenpost einer vergangenen Zeit, nicht selten lehrreich fürs Heute.
„Die hohen Töne von Luisa Tetrazzini“, sagte deren Kollegin Frieda Hempel, „waren so stark wie die unserer besten Isolden“. Auch John Steane (The Great Tradition) zog zum Vergleich allenfalls Birgit Nilsson heran.** Nur eine einzige Sopranistin des 20. Jahrhunderts also kann mit der 1871 in Florenz geborenen Tetrazzini in eine Rangordnung gebracht werden. Ihre Brillanz und stupende Virtuosität verleiteten sie allerdings dazu, „ihre eigene Virtuosität vollen Herzens zu umarmen“ (Will Crutchfield) und sich im „clownlike behaviour of the jolly diva“ zu gefallen. Und das in ihre hohen Töne vernarrte Publikum überhörte, was den Connaisseurs in London und New York nicht entging: eine weißlich-matte Farbe in der tiefen Lage – William J. Henderson (The Art of Singing) sprach von „baby-talk“ . Dafür gab es allerdings einen Grund. In der Frühzeit ihrer Laufbahn sang sie in Italien und in den Ländern Südamerikas, wo der Typus der Kindfrau mit dem Klang einer zart-mädchenhaften Stimme idolisiert wurde. Dieser Sound wurde als „bamboleggiante“ – als püppchenhaft – beschrieben, und er blieb lange populär, auch in Deutschland.
Luisa Tetrazzini.
(Foto: Public Domain)Doch von der „anderen Tetrazzini“ ist zu sprechen: der Virtuosa – und davon, dass der Begriff „virtus“ für Können und Tüchtigkeit steht. In den meisten Aufnahmen von Verdis Un Ballo in Maschera ist die Partie des Oscar mit Leggiero-Sopranen besetzt. Es ist, weil oft „bamboleggiante“ aufgefasst, kein Stimmtyp für interessante oder gar gebrochene Charaktere. Oscars drei Bravour-Szenen – die Ballata Volta la terrea, das Allegro Ah! Di che fulgur und die Kanzone Saper vorreste – sind, so scheint es, nicht viel mehr als virtuose Einlagen. Aber sie sind nicht nebensächlich. Für die Dramaturgie der Oper ist Oscar – als Parallelfigur des Helden, sogar als dessen erotischer Signaltypus – so wichtig wie die Unruhe in einer Uhr. Er ist der Katalysator der Handlung. Im dritten Bild des dritten Aktes – der Stätte des Maskenballs – versucht der in mörderischer Absicht gekommene Renato, zu erfahren, in welchem Kostüm Riccardo gekommen ist. Der von ihm bedrängte Oscar versucht, sich zu entziehen. In den meisten Aufführungen und Aufnahmen wird dieses kleine Scherzo wie eine virtuose Etüde behandelt knapp und kurz (meist plus-minus zwei Minuten) wie eine unerwünschte Unterbrechung der Handlung.
Indes, das Stück soll die Handlung unterbrechen. Es schafft das, was in Filmen von Hitchcock als Suspense bezeichnet wird. Wenn eine Bombe unter einem Tisch plötzlich explodiert, sagte der Regisseur, sorgt das nur für einen kurzen Schreck. Wenn der Zuschauer aber sieht, dass eine Lunte angezündet wird, kann er minutenlang in Spannung gehalten werden – es ist gleichsam ein vokaler cliff hanger. Die Kanzone ist ein Allegretto in zwei Strophen mit langen Lach-Passagen: Ketten von Sechzehntel-Staccati, gekrönt von einem hohen Fortissimo-H. Die zweite Strophe und besonders den éclat de rire genau zu wiederholen, passt nicht zu diesem Couplet. Die Lach-Passage schließt auf einem D. Aber in der zweiten Strophe steht darüber eine Fermate: eigentlich eine Einladung zu einer Kadenz, die von Reri Grist oder Helen Donath oder Ela Ribetti oder Alda Noni und selbst von Edita Gruberova ausgeschlagen wird – oder von den Dirigentinnen und Dirigenten unterbunden wird.
Luisa Tetrazzini beschenkt uns mit einem sängerischen Kürstück. Die Staccati der Lach-Passage federn ab wie von einem Trampolin – jede Sechzehntel gestochen scharf und exakt zentriert. Die Fermate – unmittelbar vor dem kurzen a tempo – lässt sie erst in einen Triller übergehen, dann in eine Staccato-Kette auf dem hohen D. Atemberaubend. Die Stoppuhr zeigt 2:53“ an – eine Minute mehr als bei den zuvor erwähnten Sängerinnen. Entscheidend ist, dass durch ein virtuoses jeu d‘esprit die Handlung zugespitzt wird. Ergänzt sei, dass es ähnliche Aufnahmen gibt: von Minnie Nast, Frieda Hempel, Adele Kern und Selma Kurz. Ihr Oscar glänzt zudem mit einem phänomenalen Triller.
Giuseppe Verdi, UN BALLO IN MASCHERA: „Saper vorreste“. Luisa Luisa Tetrazzini.
** Dass die Acuti (die hohen Töne) von Luisa Tetrazzini manchmal scharf und scheppernd klingen, ist auf eine Aufnahmetechnik zurückzuführen, die dem Oberton-Reichtum gerade von Sopranstimmen nicht gerecht wurde. ¶