KESTINGS FLASCHENPOST: KLEINE SCHULE DER GESANGSKUNST

Wie Lava-Ströme

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Es existiert kein Instrument, das sich der menschlichen Stimme vergleichen ließe, fand schon William Byrd. Ob uns ein Gesang anspricht oder nicht, ist meist schnell klar; aber schwer zu sagen, warum. Jürgen Kesting, takt1-Kolumnist und einer der international führenden Experten der Gesangskunst, führt hier in diesen „Flaschenposten“ in das kleine und große Einmaleins des Kunstgesangs ein. In loser Folge geht es ums Wesentliche: um technische Themen, um zentrale Werke, vor allem aber um große Sängerinnen und Sänger. Ihre Aufnahmen, nicht wenige mehr als hundert Jahre alt, sind Flaschenpost einer vergangenen Zeit, nicht selten lehrreich fürs Heute.

Jürgen Kesting
Jürgen Kesting
27.10.2021

»From the very first phrase the audience was vanquished by the overwhelming beauty of this voice – manly, broad, sympathetic, of unsurpassed richness. Such ease of production, such an abundance of high Gs. But More: Ruffo’s infinite subtlety, varied-tone-colour, his magnificent control, stupendous breathing powers, and impeccable phrasing stamped him as a genius.«

Ein Zitat aus dem Magazin Grammophon. Autor: Walter Legge, damals noch Kritiker, später der Großmogul unter den Plattenproduzenten, der durch den italienischen Bariton Titta Ruffo eine Vorstellung von den Qualitäten einer Baritonstimme bekam. „Aber das war keine Stimme“, so urteilte Ruffos Co-Student Giuseppe de Luca, „das war ein Wunder.“ Diesen Sonderfall hat der russische Bariton Sergej Levik, der in den beiden ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts die besten Sänger der zaristischen Theater sowie die internationalen Gäste erlebt hat, beschrieben:

»Wenn Ruffo, ein Mann mittlerer Größe mit einem massigen Schädel, seinen weiträumigen Mund öffnete, wurden buchstäbliche Lava-Ströme von Klang ausgeschüttet – schöne Klänge von unbeschreiblicher Üppigkeit.«

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Titta Ruffo, geboren als Ruffo Titta Cafiero am 9. Juni 1877 in Pisa.

(Foto: Public Domain)

Die Frage bleibt, wie wir uns das „Unbeschreibliche“ vorstellen sollen – es gibt keinen Ersatz für Stimmen, die wir (noch) nie gehört haben. Ich erinnere mich meines fassungslosen Staunens, als ich Ende der sechziger Jahre erstmals eine solche Klangeruption erlebte – wie Nelusco in Giacomo Meyerbeers L’Africana die Seeleute – „All’erta, marinar“ – vor einem drohenden Sturm warnt. Im Klang der bis auf das hohe As aufsteigenden Stimme wird die drohende Gewalt der Natur sinnfällig.

„All’erta, marinar“ aus Giacomo Meyerbeers „L’Africana“ mit Titta Ruffo, 1915.

In seinem Dirigentenleben, so sagte Tullio Serafin, als Großmeister unter den italienischen Operndirigenten mit allen herausragenden Sängern seiner Zeit vertraut, habe er nur drei Wunder erlebt:

»Enrico Caruso, Rosa Ponselle und Titta Ruffo – daneben hat es einige wundervolle Sänger gegeben.«

Eine feine und doch wichtige Unterscheidung: Jene drei gehörten zu den Stimmwundern, die anderen zu den Gesangskünstlern – wie Maria Callas, die ihre frühe Karriere unter der Obhut von Tullio Serafin gemacht hat.

Kennt man ihn noch? Den 1877 in Pisa geborenen Sohn des Metallarbeiters Oreste Titta, der seinen Sohn auf den den Namen seines kurz zuvor verstorbenen Hundes – Ruffo – hatte taufen lassen. Wie war es möglich, dass der junge Ruffo Titta, der nie eine Schule besuchen konnte, im Alter von einundzwanzig Jahren als Heerrufer in Lohengrin debütieren konnte und in den folgenden zwanzig Monaten mehr als ein Dutzend der schwierigsten Rollen singen konnte: darunter Verdis Luna, Rigoletto, Don Carlo di Varga und Renato, Ponchiellis Barnaba, Gounods Valentin, Bizets Escamillo, Mascagnis Alfio und Leoncavallos Tonio, dazu etliche andere Partien in damals aktuellen Opern.

Es war der Auftakt für eine Hetzjagd erst durch Italien, dann nach Nordafrika und Südamerika, nach Russland und in die USA – mit beispiellosen Triumphen in Buenos Aires und Chicago. „When Ruffo sings“, hieß in Chicago, „there is bedlam“. Er sorgte für eine Aufruhr wie ein halbes Jahrhundert später nur Popstars. Aber obwohl er als einer der besten Sänger der Welt bewundert, wurde er nicht an der New Yorker MET engagiert. Angeblich soll Caruso, der in Ruffo einen zu starken Rivalen in der Gunst des Publikums sah, ein frühes Engagement verhindert habe. Aber im Studio haben sich die beiden am 8. Januar 1914 getroffen: für die Aufnahme von „O mostruosa colpa! ... Sì pel ciel marmoreo giuro“ aus Verdis Otello. Das Duett verwandelt sich in ein hitziges Duell.

Erlaubt sei der Hinweis auf einige Details: Nach den Insinuationen Jagos ist Otello von der „mostruosa colpa“ Desdemonas überzeugt. Jago nährt die Eifersucht Otellos mit der Frage, ob er nicht in den Händen Desdemonas ein Taschentuch gesehen habe – und Otello erwidert, dieses „fazzoletto“ sei seine erste Liebesgabe an sie gewesen. Dieses Tüchlein, behauptet Jago dann, habe er am Tag zuvor in den Händen Cassios gesehen.

Ruffo findet für die Frage Jagos die „varied tone-colours“, Caruso für die Antwort Otellos den Ton einer beseligten Erinnerung. Jagos „Lo vidi in man di Cassio“ treibt ihn in wütende Raserei. Die „Sangue“-Rufe – aufsteigend eis-gis-ais – sind gleichsam Klangchiffren des Blutrausches. Die Intensität der Darstellung ist vergleichslos.

„O mostruosa colpa – Sì pel ciel“ aus Giuseppe Verdis „Otello“ mit Enrico Caruso und Titta Ruffo ist ein singuläres Beispiel dramatischen Singens bei höchster stimmlicher Kontrolle.

Noch einmal: Welch unglaubliche Stimmen! Die Klangsättigung von Ruffos Stimme durch die Ausnutzung aller Resonanzräume – des hochgewölbten harten Gaumens, der Maske, – ist einzigartig. Außergewöhnlich wie das gewaltige Volumen war der Umfang der Stimme, die bis aufs As aufsteigen und Klang-Quader auftürmen konnte. Die Intensität der Phonation veranlasste den italienischen Kritiker Rodolfo Celletti zum Vergleich des Tons mit einer „Säule aus Bronze“. Umso erstaunlicher, dass Ruffo den Klang suggestiv modulieren konnte. Er hat selber vom Farbenspiel eines „Regenbogens“ gesprochen.

»Ich bemühte mich, eine wirkliche Farbpalette aufzubauen. Mit überlegtem Abweichen bildete ich eine weiße, dann eine dunklere und intensivere Stimme, die ich als meine blaue Stimme bezeichnete. Durch die Vergrößerung und Rundung desselben Klangs empfand ich sie als rot. Dann die schwarze … das Maximum an Dunkelheit. [...] Welch ein Vergnügen, wenn ich bemerkte, dass ich die weiße Stimme mit der blauen, diese mit der roten und schwarzen zu einer harmonischen Klangeinheit zusammenführen konnte.«

Seine rund 60 Aufführungen an der Metropolitan Opera hat Ruffo erst nach dem Tod Carusos bestritten – nach dem Debüt als Rossinis Figaro am 19. Januar 1922. Aber kann man sich diese mächtige Stimme in einer Partie wie Figaro vorstellen? – Es ist ja so, wenn ein einfacher Vergleich erlaubt ist, als müsse man einen Panzer durch die engen Kurven der Rennstrecke von Monza steuern. Ruffos Cavatina ist ein einzigartiges Jeu d’esprit. Der rhythmische Impetus des Singens ist fulminant. Nach den beiden ersten gebundenen Versen dürfen einige Phrasen a piacere, also nach Belieben des Sängers, ausgeführt werden. Es sind jene, in denen Figaro über den Umgang mit den Liebeshändeln der Damen und Herren scherzt. Ruffo lacht und juxt dort wieder im Klang. Seine rhythmische Prägnanz der punktierten Achtelpassagen ab „Tutti mi chiedono” ist selten wieder erreicht worden – so wenig wie die Klangentfaltung und Atemkontrolle bei „uno alla volta ... per carita”, eine Phrase, die fünf Mal das hohe F in rascher Attacke verlangt. Das Ganze wird übergipfelt von der stupenden silbischen Artikulation im Presto-Finale „Ah, bravo Figaro ... fortunatissimo“.

Titta Ruffo singt „Largo al factotum“ aus Gioachino Rossinis „Il Barbiere di Sivigla“. Aufnahme aus Mailand, 1912.

Mit ähnlicher „Teilchenbeschleunigung“ verblüfft und verzaubert Ruffo in dem mit Maria Galvany aufgenommenen, leicht gekürzten Duett „Dunque io son“. Das Auge der Einbildungskraft kann förmlich sehen, wie Figaro bei Rosina vorspricht; wie er selbstgefällig seinen schlauen Plan unterbreitet und sich dadurch düpiert sieht, dass Rosina – „Un biglietto? ... eccolo qua“ – das Briefchen, das er von ihr erbittet, schon geschrieben hat. Und während sie sich in girrenden Sechzehntel-Passagen ergeht, ruft er in gespielter Verzweiflung über die Weiberlist – „Donne, donne, eterni dei“ – die Götter an: in raschem Sillabato auf G und eine Quinte tiefer auf C. Bei der Wiederholung der Phrase „qui vi arriva“ verdoppelt er – auf einer Silbe zwei Noten singend – das Tempo.

Zum Schluss die Hoffnung, dass hiermit der Appetit auf den singenden Löwen geweckt ist! ¶

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