THE SOCIETY OF MUSIC: 5. August 2020

Hoch lebe das Festspiel

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Jürgen Kesting
Jürgen Kesting
05.08.2020

In seinem 1956 veröffentlichten Buch Homo ludens hat der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga das Spiel als kulturbildende Kraft beschrieben: Spielerische Verhaltensweisen gehören zu den Voraussetzungen der Weltaneignung, so wie sie zu den Grundlagen von heiligen Feiern und Festen gehören. In Analogie zu Huizinga betonte auch der ungarischen Mythen-Forscher Karl Keréyni in seinem Essay Vom Wesen des Festes, „Festlichkeit (sei) ein Ding für sich, das mit nichts anderem in der Welt zu verwechseln ist“. Voraussetzung für jede Festlichkeit ist Gemeinschaft – und, nun in spezifischer und aktueller Hinsicht, der große Sinn derer, die ein Fest-Spiel vollbringen, und der große Sinn derer, die es erleben. Darin sah Nietzsche das Ziel der Bayreuther Festspiele.

 

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Der Ausfall von Aufführungen und Konzerten bedeutet nicht nur einen schmerzlichen ökonomischen Verlust für die beteiligten Künstlerinnen und Künstler, er bedroht das kulturelle Erbe, das dadurch fortlebt.

(Foto: Public Domain)

Das grausame Faktum, dass die Bayreuther Festspiele abgesagt wurden und die Salzburger Festspiele nur in gleichsam skelettierter Form stattfinden können – dies nur zwei herausgehobene Beispiele für das Musikleben –, ist in den letzten Monaten wieder und wieder beschrieben worden, aber besonders oft im Wirtschaftsteil der Zeitungen. In einem dieser Berichte, basierend auf einem Gespräch mit Helga Rabl-Stadler, der Präsidentin der Salzburger Festspiele, war en detail über die Verluste zu lesen, die das zu 60 Prozent aus Einnahmen finanzierte Festival zu verkraften hat, weil viele Aufführungen und Konzerte abgesagt werden mussten. Die wenigen, die stattfinden können, sind nur einem begrenzten Publikum zugänglich und stehen unter dem Diktat von hygienischen Vorsichtsmaßnahmen, die auf die Stimmung kaum anders wirken als Sedativa.
Wie soll, wie kann ein freies Spiel entstehen, wenn es dem Diktat solcher Maßnahmen unterworfen ist?

Was die Ökonomie angeht, kein Missverständnis! Was die gesellschaftliche Aufgabe angeht, so erfüllen sich Festspiele nicht im Selbstzweck des Spiels. Sie sind die Agenturen der Zivilisation – einer „transkulturellen Begeisterungsgemeinschaft.“ (Bazon Brock). Schon in seiner 1917 veröffentlichten Denkschrift zur Errichtung eines Festspielhauses hatte Max Reinhardt, einer der Gründerväter, auf die eminente wirtschaftliche Strahlkraft eines solchen Festspiels hingewiesen, die auch und gerade darauf beruht, dass sich eine Begeisterungs- und Huldigungsgemeinschaft einfindet – sich zusammenfindet für ein Fest und für die kritische Wertschätzung dessen, was sie erlebt oder auch: womit sie konfrontiert wird.

Wir haben Zeiten erlebt – wenn wir nicht immer noch in solchen Zeiten stecken –, in denen Festivals wie die in Bayreuth und Salzburg als „elitär“ hingestellt wurden (was übrigens Auto-Salons oder 10.000-Euro Logen im Tennis nicht widerfährt). Ich erinnere mich an einen Redakteur des Spiegel, der das Flugzeug nach Salzburg im Anzug und das Festspielhaus in „kulturkritischer“ Verachtungs-Attitüde in Jeans und mit nackten Füßen in Sandalen betrat. Festspielbesucher müssen sich mit dieser Form des „Protests“ nicht encanaillieren; vielmehr finden sie sich zu einer grenzüberschreitenden Zivilisationsgemeinschaft zusammen. Das ist nicht als harmonisierende Floskel – „Freude schöner Götterfunken“ und „diesen Kuß der ganzen Welt“ – zu verstehen. Wer der Geschichte der Bayreuther wie der Salzburger Festspiele nachgeht, dem können nicht die zahllosen Konflikte entgehen, die durch die Ideologisierung der Kunst entstehen. Umso wichtiger, dass Festspiele stattfinden können: als Stätten des zivilisatorischen Austausches, bei dem die jeweiligen und immer neuen Publika die aktuellen künstlerischen Ausdrucksformen erleben und einen Sinnzusammenhang herstellen können. Es ist, wie Bazon Brock feststellte, eine Diskursgemeinschaft, die sich im Theater einfindet und in „alten“ Stücken etwas Neues entdecken kann. Der Ausfall von Aufführungen und Konzerten bedeutet nicht nur einen schmerzlichen ökonomischen Verlust für die beteiligten Künstlerinnen und Künstler, er bedroht das kulturelle Erbe, das dadurch fortlebt, dass wir es mit neuen Augen sehen und mit neuen Ohren hören – als Gemeinschaftserlebnis. ¶

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