Eigentlich läßt sich die Annalistik ja keinen entgehen. Sie ist die Hüterin auch vergessener Meister. Aber der 150. Todestag von Carl Loewe im April dieses Jahres war ihr der Erwähnung nicht wert. Der einstige Stettiner Kantor und Musikdirektor ist, wie das bedeutende Lexikon „Musik in Geschichte und Gegenwart“ bereits 1960 vermeldete, „aus dem Musikleben so gut wie verschwunden“. Mich hatte schon die erste Begegnung mit Loewe – Die Uhr auf einer 45-Platte mit Josef Greindl und Hertha Klust – abgeschreckt. Die Verklärung der Historie, die Träumereien von großen heroischen Zeiten, die nächtlich-dämonischen Beschwörungen nach dem Vorbild der schwarzen Romantik, endlich die Sehnsucht nach Idyllen – all das schien (nicht nur mir) altväterisch. Auch die Heroen-Gravitas, mit der Bässe wie Paul Knüpfer, Paul Bender und Theodor Scheidl Archibald Douglas oder Prinz Eugen auftreten ließen, hüllte die Figuren Kostüme wie aus Bayreuther Vorzeiten. Wie komisch etwa, wenn aus einem Kobold wie dem Nöck ein Bewohner aus Nibelheim wurde und nicht ein Orpheus aus den Wassern, wie er im Lied mit trivialen Versen beschworen wird:
»Mit Singen kann er lachen
Und selig weinen machen!
Der Wald erbebet,
Die Sonn entschwebet... Er singt bis in die Sternennacht!«
Das ist, mag sein, Edelkitsch. Und doch, erinnert das Melos dieser Wasser-Legende nicht an den Zauber der italienischen Belcanto-Oper? Nur muss, mit Wagner gesagt (der Loewe sehr bewunderte), sich der richtige Sänger hinstellen. Es war ein Moment reinen Entzückens, als ich das Lied jüngst von Kurt Moll hörte, der das endlose Melisma auf Sternnacht auf einem Atem singt. Der Zauber wiederholte sich bei Hermann Prey und verdoppelte sich, als ich ihn mit der ersten seiner vier Versionen des Erlkönig hörte – mit Günther Weissenborn am Klavier. Auf die Frage, ob das dritte Lied aus Loewes Opus Eins neben der expressionistischen Vertonung von Schubert bestehen kann, gab es nach der Aufnahme mit Prey keine Frage des Zweifels: Wie beklemmend der Kontrast zwischen der drohend-beißenden Stimme des Gewalt androhenden Erlkönigs und der Antwort des Kindes, ein Aufschrei der Angst, der in ein Wimmern übergeht: grandioses vocal acting.
Hermann Prey singt Carl Loewes “Erlkönig”.
Das ist noch höherem Maß für das erste Lied von Loewes Opus Eins gefordert: Edward, eine der vielen Nachdichtungen altschottischer Balladen von Johann Gottfried Herder. Es ist die grausige psychologische Skizze eines Mannes, der in einem mit Oh-Seufzern durchsetzten Dialog mit der Mutter klagt, sein Schwert sei vom Blut seines Geiers, seines Rosses, seines Vaters gerötet – und zum Schluss der Mutter flucht:
»Der Fluch der Hölle soll auf euch ruh’n, denn Ihr, Ihr rietet’s mir.«
Fischer-Dieskau singt “Edward” von Carl Loewe, Gerald Moore begleitet ihn am Klavier.
Wagner, der das Lied bewunderte, wäre entzückt gewesen von der manisch glühenden Aufnahme von Dietrich Fischer-Dieskau (mit Gerald Moore), womöglich aber noch stärker gepackt von der englischen Version des amerikanischen Baritons Lawrence Tibbett – nicht nur wegen des schallenden hohen G auf “Father”, sondern vor allem wegen Raserei von Weh- und der Wutlauten, die immer getragen sind von einer der größten aller Bariton-Stimmen. Ein Thriller!!
“Edward” gesungen von Lawrence Tibbett.
Warum also nicht die Revision eines lang gehegten Vorurteil – mit den ,richtigen‘ Sängern als Anwälten für den unterschätzten Loewe, der viele Balladen von Herder, Bürger, Schiller und Goethe in kleine Musikdramen verwandelte, in denen das Erzählerische, Lyrische und Dramatische sich verbanden. Bekannt wurden sie zuerst durch ihn selber – er war ein hochbegabter Baritenore mit einem Umfang vom G des Bassses bis zum A des Tenors, popuär dann durch die schon erwähnten Wagner-Barden. Aber schon 1893 schrieb George Bernard Shaw mit mildem Spott über Albert Bach, einen „powerful German basso cantante“, er habe mehr auf „dramatic force“ gesetzt als auf „lyric charm“ – und wies darauf hin, dass selbst der vielseitigste Bass mit perfekter Intonation und reichem lyrischen Talent nicht in der Lage sei, einen Loewe-Abend allein zu bestreiten. Es gebe in den Stücken zu viele lyrische, weit ausschwingende und ausgedehnte Passagen in hoher Lage. In dieses „Revier“ aber konnten sich die Bässe nicht wagen.
Carl Loewe.
(Foto: Public Domain)Loewes Lieder fielen alsbald durch den Raster. Das änderte sich auch nicht durch die mehr als hundert Aufnahmen, die Michael Raucheisen zwischen 1942 und 1945 mit den durch die Schließung der Opernhäuser unterbeschäftigten Sängern für den Reichsrundfunk machte – darunter Josef Greindl, Hans Hotter, Elisabeth Schwarzkopf, Hanns-Heinz Nissen, Rudolf Bockelmann, Lea Piltti, Gertrude Pitzinger und Peter Anders. Denn diese Sammlung wurde erst in der CD–Ära weithin zugänglich. Viele Titel haben jenen hohen Reiz, der im Improvisatorischen und der Unvollkommenheit liegen kann. Hans Hotter hat berichtet, dass die Sänger sich morgens vor den Mikrophonen einfanden und mittags Lieder singen mussten, die sie zuvor noch nie gesehen hatten. Welch große Zahl kleiner Lieder von zauberischer Wirkung und wie groß das Staunen, Sänger kennenzulernen, die – zeitbedingt – unterrepräsentiert waren, sie zu hören in stimmlicher Jugendblüte wie etwa Josef Greindl, der in seinen frühen Dreißigern gerade als Vokalist brillierte – und viel ‚schöner‘ gesungen denn später als grimmer Hagen.
Wie aus Greindl hat Loewes Musik später aus dem jungen Hermann Prey das Beste herausgeholt, gewiss auch aus dem Großmeister der dramatischen Deklamation: Dietrich Fischer-Dieskau. Nun aber Finem lauda: ein diskgraphischer Überblick ist hier nicht möglich, nur eine Anregung für many happy hours mit Loewe. ¶