Es existiert kein Instrument, das sich der menschlichen Stimme vergleichen ließe, fand schon William Byrd. Ob uns ein Gesang anspricht oder nicht, ist meist schnell klar; aber schwer zu sagen, warum. Jürgen Kesting, takt1-Kolumnist und einer der international führenden Experten der Gesangskunst, führt hier in diesen „Flaschenposten“ in das kleine und große Einmaleins des Kunstgesangs ein. In loser Folge geht es ums Wesentliche: um technische Themen, um zentrale Werke, vor allem aber um große Sängerinnen und Sänger. Ihre Aufnahmen, nicht wenige mehr als hundert Jahre alt, sind Flaschenpost einer vergangenen Zeit, nicht selten lehrreich fürs Heute.
Eine Flaschenpost aus dem 18. Jahrhundert, überbracht von einem heutigen Sänger: dem amerikanischen Tenor Michael Spyres. Seit Jahren ist er im Begriff, die Welt der Tenöre – oder unsere Hörerwartungen – auf den Kopf zu stellen. Vor einem Jahr beantwortete er die Frage: „Was ist ein Baritenor“ mit einer 18 Titel umfassenden Arien-Sammlung. Sie umfasste Arien wie die des Tonio aus La fille du régiment, mit deren hohen C’s uns Luciano Pavarotti oder Juan Diego Flórez entzückten; pilotierte seine geschmeidige Stimme durch die in der unteren Oktave liegenden Laufpassagen von Idomeneos „Fuor del mar“ – eine Arie, die von den Herausgebern der Mozart-Edition als unsingbar bezeichnet wurde; brillierte mit dem Presto-Parlando von Rossinis Figaro („Largo al factotum“) und führte seinen „Baritenor“ durch die Arien von Verdis Luna und Leoncavallos Tonio in Pagliacci.
Seinem Anspruch, in seiner Karriere das Repertoire weiter ausgeschritten zu haben als jeder andere, stellt er sich jetzt wieder mit 15 Arien, die in der Zeit des Hochbarock von Komponisten wie Vivaldi und Vinci, Sarro und Galuppi, Latilla und Hasse für Sänger geschrieben wurden, deren Ruhm den der Kastraten überstrahlt und für die Rangerhöhung der Tenorstimme gesorgt haben soll: Francesco Borosini, Angelo Maria Amorevoli, Annibale Pio Fabri und Grigorio Babbi. Im Kommentar macht er uns neugierig auf das „elegant phrasing“ dieser Stimme, das „coloratura firework“, die „dynamic range“ und „the beauty of tone“, endlich auf die „superhuman extension“ über 31/2 Oktaven.
Wie viele Oktaven? In fünf der Arien, die man über IMSLP auf den Bildschirm laden kann, beträgt der Umfang nicht einmal zwei Oktaven: durchweg vom D zum A1, im Passagenwerk auch bis zum H1. Gewiss, es ist bekannt, dass der gedruckte Text für die Sänger nur ein Ausgangspunkt war, dass sie mit Verzierungen und Auszierungen brillierten, zu denen aber kaum extreme Ausdehnungen in die Höhe gehörten.
Eine klingende Antwort gibt er nicht. In einer Arie aus Antonio Mazzonis Antigono legt er nach einem phantastischen Koloratur-Parcours eine Kadenz ein, bei der er mit dem Falsett ein G2 singt, das aber eher an ein Krähen auf dem Hühnerhof denken läßt, und geht dann hinunter auf das große G. Überzeugender die Arie „Solcar pensa un mar sicuro“ aus Hasses Arminio mit einer sauber ausgeführten Laufpassage vom D2 zum großen B – also ein Umfang von zwei Oktaven plus großer Terz: der hohe Ton in heller, schlank tenoraler Fassung, der tiefe mit viril-sonorem Klang. Und „dazwischen“ wunderbar geschmeidiges, dynmisch wohlabgestimmtes und wohllautendes Singen.
Über die oben genannten Rivalen und deren Erfolge neben den oder gegen die Kastraten war bisher wenig bekannt. Rodolfo Celletti weist in seiner „Geschichte des Belcanto“ auf die hochvirtuose Arie aus Hasses Arminio hin, mit der Amorevoli brillierte. Sie war offenbar ein Gegenstück zu den Sturm- und Gleichnisarien, wie sie etwa für Farinelli geschrieben wurden. Aber der Ruhm der Kastraten sorgte im London Händels dafür, dass Tenöre im dritten Glied standen; und nur Borosini, der in London angekündigt wurde als Sänger, der „never cut out for a singer“ war, ist als Uraufführungssänger des Bajazet in Tamerlano in Erinnerung.
Aber es sei daran erinnert, dass Händel schon fünf Jahre vor seinem Tod, also seit 1754 für fast 170 Jahre vergessen war: bis zur Göttinger Renaissance, die seinen Vokalstil aber gründlich entstellte. Die Werke seiner Zeitgenossen, die hier vertreten sind, haben erst in den letzten Jahren ein wenig Aufmerksamkeit gefunden. Weniger Aufmerksamkeit als, wie Spyres beklagt, die Kastraten, auch wenn deren Rollen nur mit Stimm-Imitationen besetzt werden konnten. Spyres jedenfalls erfüllt eine berühmte Aufforderung, die der Choreograph Sergej Diaghilew an Jean Cocteau richtete: „Etonne-moi!“ – bring mich zum Staunen. ¶