Es existiert kein Instrument, das sich der menschlichen Stimme vergleichen ließe, fand schon William Byrd. Ob uns ein Gesang anspricht oder nicht, ist meist schnell klar; aber schwer zu sagen, warum. Jürgen Kesting, takt1-Kolumnist und einer der international führenden Experten der Gesangskunst, führt hier in diesen „Flaschenposten“ in das kleine und große Einmaleins des Kunstgesangs ein. In loser Folge geht es ums Wesentliche: um technische Themen, um zentrale Werke, vor allem aber um große Sängerinnen und Sänger. Ihre Aufnahmen, nicht wenige mehr als hundert Jahre alt, sind Flaschenpost einer vergangenen Zeit, nicht selten lehrreich fürs Heute.
Auch Theater erleben ihre Zeitenwenden. Eine Epoche ging zu Ende, als der italienische Impresario Giulio Gatti-Casazza 1935 die Leitung der Metropolitan Opera abgab. Unter seiner Ägide hatten Enrico Caruso und Antonio Scotti, Luisa Tetrazzini und Rosa Ponselle auf der Bühne gestanden, Arturo Toscanini und Gustav Mahler im Graben. Nachdem Gattis Nachfolger Herbert Witherspoon nur zwei Monate nach seiner Ernennung zum General Manager gestorben war, übernahm der kanadische Tenor Edward Johnson die Leitung des Hauses – in denkbar schwierigen Zeiten. Die angespannte Finanzlage und die politischen Zeitläufte erschwerten das Engagement europäischer Künstler. Johnson brauchte Talente aus dem eigenen Land. Die 1935 auf Initiative des Dirigenten Wilfrid Pelettier eingerichteten Metropolitan Opera Auditions of the Air wurden zum Sprungbrett für Sänger, die als die Johnson-Babies bekannt wurden. Zu ihnen gehörten Eleanor Steber, Regina Resnik, Richard Tucker und der Bariton Leonard Warren, um nur wenige zu nennen.
Nach einem triumphalen Auftritt Leonard Warrens im Rahmen der Auditions bewahrte Pelletier den 27-Jährigen davor, ohne gründliche Vorbereitung den Schritt an die Met zu wagen und Gefahr zu laufen, aussortiert zu werden. Erst nach einem Jahr bei dem Studienleiter der Mailänder Scala konnte er am 13. Januar 1939 als Paolo in Verdis Simon Boccanegra debütieren – und dies neben seinem Kollegen Laurence Tibbett, der in den Jahren zuvor zum amerikanischen Idol geworden war. Warren musste sich gegen härteste Konkurrenz durchsetzen: gegen Richard Bonelli (einen Stimmriesen), Carlo Tagliabue und Robert Weede. Seine Klugheit und sein skrupulöser Ehrgeiz brachten ihn dazu, bei den Größten des italienischen Fachs in die Schule zu gehen: indem er die Aufnahmen von Titta Ruffo und Riccardo Stracciari studierte. Die Stimme, zu Anfang noch ein wenig rauh und ungefüge, entwickelte sich zu einem prachtvollen Instrument mit einer brillanten Höhe bis zum As.
“Si può” aus Leoncavallos “Pagliacci”.
Der Klang von Warrens Stimme füllte selbst ein Riesenhaus wie die Met, gerade auch im Piano und Pianissimo. Ihre Farbe war die von „glänzendem Mahagoni“, wie der Schauspieler Tony Randall – der komische Gegenspieler von Rock Hudson in mehreren Hollywood-Filmen – im Vorwort zur Warren-Biography von Jane-Phillips-Matz schreibt. Über diesen vibrierenden Klang sagte der Musikologe Paul Henry Lang:
»Eine elementare, kraftvolle, heroische, sogar brutale Schönheit liegt in dem sich verströmenden, dionysischen Zauber der voll entwickelten Singstimme – und Leonard Warren besaß eine solche Stimme.«
Aus Paul Jacksons Studien der Met-Broadcasts geht hervor, dass Warren schon bald der Primus inter pares war, und in dem Maße, wie die Kräfte von Lawrence Tibbett nachließen, zum primo baritono des Hauses wurde. Auch wenn die Met-Ära von Rudolf Bing 1952 mit einer Aufführung von Verdis Don Carlo eröffnet wurde, in der Robert Merrill die Partie des Posa bestritt, blieb Warren in den fünfziger Jahren der erste Bariton der Met – ob als Jago neben Ramón Vinay und Mario del Monaco, als Barnaba neben Zinka Milanov, als Gérard neben Milanov und del Monaco, als Luna neben Milanov und Tucker, als Germont neben Renata Tebaldi, als Don Carlo di Varga neben Milanov und Tucker, als Macbeth neben Leonie Rysanek. Mitschnitte von Aufführungen dieser Werke sind erhalten.
Am 4. März 1960 stand Verdis La forza del destino auf dem Programm der Met. Für Alvaro und Carlo waren Richard Tucker und Leonard Warren aufgeboten. Nach dem Freundschaftsduett zwischen Alvaro und Carlo wirkte der Bariton fahrig. Er zögerte, seine Arie zu beginnen: Morir! Tremenda cosa! – O Tod, du Wort des Grauens. Dann sang er doch, sang bis zum Ausruf o gioa vor der Stretta, stand plötzlich wie erstarrt, ließ das Medaillon, auf dem Carlo das Portrait der Leonora – seiner Schwester – erkennt, aus der Hand gleiten. Dann stürzte er, zuerst mit dem Brustkorb und dann mit dem Kopf aufschlagend, zu Boden.
Das Publikum saß starr vor Entsetzen und hörte aus der Gasse einen gellenden Schrei: „Lennie, Lennie!“ Dann stürzte Richard Tucker auf die Bühne. Er sah alsbald, wie das Blut aus der gebrochenen Nase seines Kollegen und Freundes schoss. Er versuchte, dem Leblosen durch Mund-zu-Mund-Beatmung zu helfen. Der Theaterarzt, Dr. Adrian Zorgniotti, konnte nur noch den Tod des Baritons feststellen. Wenig später trat Rudolf Bing vor den Vorhang und sagte: „Dies ist einer der traurigsten Momente in der Geschichte dieses großen Theaters.“ Er wurde von einem Aufschrei unterbrochen, und es brauchte Zeit, bis Ruhe einkehrte. „Darf ich Sie bitten, sich zu erheben. Ich bitte Sie, einen unserer größten Künstler, der mitten in einer seiner größten Aufführungen gestorben ist, in ehrenvoller Erinnerung zu behalten. Ich bin mir Ihres Einverständnisses sicher, dass die Aufführung nicht fortgesetzt werden kann.“ ¶
“Morir! Tremenda cosa” aus Verdis “La forza del destino”.