Es existiert kein Instrument, das sich der menschlichen Stimme vergleichen ließe, fand schon William Byrd. Ob uns ein Gesang anspricht oder nicht, ist meist schnell klar; aber schwer zu sagen, warum. Jürgen Kesting, takt1-Kolumnist und einer der international führenden Experten der Gesangskunst, führt hier in diesen „Flaschenposten“ in das kleine und große Einmaleins des Kunstgesangs ein. In loser Folge geht es ums Wesentliche: um technische Themen, um zentrale Werke, vor allem aber um große Sängerinnen und Sänger. Ihre Aufnahmen, nicht wenige mehr als hundert Jahre alt, sind Flaschenpost einer vergangenen Zeit, nicht selten lehrreich fürs Heute.
Da capo für die in der letzten Folge gestellte Frage: Was ist dramatisch, was heldisch, was lyrisch – nun bezogen auf einen Tenor, der so gut wie alle zentralen Partien des ausgehenden 18., des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts gesungen hat. Deutsche, italienische und französische, sporadisch auch russische: Helge Rosvaenge (1897-1972). Von den Zeitläuften nach dem Ersten Weltkrieg nach Schwerin verschlagen, war er weitgehend Autodidakt, als er 1921 in Neustrelitz für seinen Debüt-Erfolg als Don José in Carmen mit dem Vertrag als erster lyrischer Tenor belohnt wurde. Dass er nur sechs Jahre brauchte, um über Basel und Köln an die Berliner Staatsoper zu gelangen, verdankte er den drei höchsten Qualitäten, die ein Sänger, wie Rossini auf eine Frage hin sagte, mitbringen muss:
»Erstens: Stimme, zweitens: Stimme... und drittens: Stimme.«
Diese Mitgift besaß der aus Kopenhagen gebürtige Tenor im Übermaß. Wie er in der Hochgebirgslage prunken konnte, ist in der Arie des Sobinin aus Michail Glinkas Das Leben für den Zaren zu erleben und zu bewundern. Ein halbes Dutzend Mal wird dem Sänger das hohe C abverlangt – in den Rahmenteilen con attaca anzuschlagen, im Innenteil mit der Halbstimme elegisch zu tönen.
„Brüder folgt mir“ aus Michael Glinkas „Ein Leben für den Zaren“
Nicht nur in dieser, sondern in vielen Aufnahmen ist zu hören, dass Rosvaenge das leuchtende „i“ in der Höhe „von der Natur eingebaut“ (Franziska Martienßen-Lohmann) war. Wie Mozarts Tamino (Benedikt Schack) war er ein sogenannter i-Tenor. Selbst in der höchsten Lage mischte er in dunkle Vokale das helle „i“ ein wie im Couplet des Postillon von Lonjumeau, wenn er dem Vokal im Wort „froh“ eine Dosis „i“ infundiert.
„Freunde, vernehmet die Geschichte“ aus Adolphe Adams „Der Postillon von Lonjumeau“
Hier wäre lang und ausführlich über die Probleme des Vokalausgleichs zu sprechen, also die Angleichung der unterschiedlichen Farben durch die Veränderung der Vokalformanten, um einen stabilen und ausgeglichenen Klang zu bilden. Nur geht es, damit zurück zur Anfangsfrage, um die Unterschiede zwischen dramatisch und lyrisch. Die von der Flaschenpost überbrachten „Botschaften“ von Lotte Schöne ließen hören, dass eine lyrische Sopranistin zwar klanglich expandieren kann, sich aber vom Ausdruck her zart, verhalten, innig mitteilt – dem Charakter der meisten ihrer Partien entsprechend. Helge Rosvaenge wusste zwar, lyrische Phrasen inwendig zu singen – mit den dazu erforderlichen mezza-voce-Phrasierungen –, aber der Veranlagung nach war er ein dramatischer Tenor. Dies nicht nur wegen der kräftigen und robusten Stimme, die ohne Ermüdung und Substanzverlust jährlich 150 Aufführungen (und mehr) verkraftete, sondern auch wegen seines extrovertierten Temperaments. Wie der Stimme das „i“ eingebaut war, war im Darsteller ein mächtiges, ein übermächtiges Ausdruckswollen angelegt. Damit entsprach er einigen Entwicklungen des deutschen Musiktheaters, insbesondere des Expressionismus. Seine Verdi-Aufnahmen sind charakteristische Dokumente des rhetorisch-flammenden, expressiv zugespitzten Stils, der von Arturo Toscanini initiiert und von Fritz Busch nach Deutschland gebracht worden war. Typisch für sein Singen war die rhetorische Zuspitzung: jene Wort-Ton-Verdichtung, die von Verdi in der parola scenica gesucht wurde. Seine konsonantisch geprägte Wortartikulation mit der emphatischen Überbetonung der Halbvokale, der Nasale und Liquide führt zu einer manchmal komischen Grandiosität. Rosvaenge singt nicht „ster-be, sondern „sterrrr-be“, macht aus „Won-ne“ eine „Wonnnnn-ne. Der Däne bleibt nicht als Stilist, nicht als Belcantist in Erinnerung – aber als ein Tenor für das große Staunen.
Bleibt zum Schluss eine Aufnahme, mit der Rosvaenge sich selbst überboten hat – gerade wegen der rhetorischen Zuspitzungen. Es war Walter Legge, der den Sänger für die Hugo Wolf Society Hugo Wolfs Feuerreiter singen ließ: vier Minuten und 48 Sekunden, in denen er seine emphatische Manier für eine expressionistische Schauermär von beklemmender, von buchstäblich brennender Intensität nutzen konnte. ¶
„Der Feuerreiter“ von Hugo Wolf