KESTINGS FLASCHENPOST: KLEINE SCHULE DER GESANGSKUNST

Die Stimmen der Anderen

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Es existiert kein Instrument, das sich der menschlichen Stimme vergleichen ließe, fand schon William Byrd. Ob uns ein Gesang anspricht oder nicht, ist meist schnell klar; aber schwer zu sagen, warum. Jürgen Kesting, takt1-Kolumnist und einer der international führenden Experten der Gesangskunst, führt hier in diesen „Flaschenposten“ in das kleine und große Einmaleins des Kunstgesangs ein. In loser Folge geht es ums Wesentliche: um technische Themen, um zentrale Werke, vor allem aber um große Sängerinnen und Sänger. Ihre Aufnahmen, nicht wenige mehr als hundert Jahre alt, sind Flaschenpost einer vergangenen Zeit, nicht selten lehrreich fürs Heute.

Jürgen Kesting
Jürgen Kesting
15.03.2023

„Die meisten Nachahmer“, so heißt es in einem Aphorismus von Marie von Ebner-Eschenbach, „lockt das Unnachahmliche.“ Was die Kopien von Enrico Carusos Version von Canios „Vesti la giubba“ aus Pagliacci angeht, würde Leporello in seinem Register weiter zählen als bis zur Zahl mille e tre. In vielen Aufnahmen von Mephistos „Rondo vom Goldenen Kalb“ („Le veau d’or“) trifft man auf gleichsam zähnefletschende Teufels-Grimassen, die als Schaljapinismen beschrieben worden sind. Richard Tauber hat in den frühen fünfziger Jahren in Herbert Ernst Groh ein Klang-Double gefunden. In den siebziger Jahren war es für junge Sopranistinnen im dramatischen Fach à la mode, die Bronze-Brusttöne von Maria Callas einzusetzen.

Darüber zu spotten ist nicht angebracht. Das Studium des Singens, und insbesondere die Formung der Stimme, beginnt mit Nachahmung. Gerade Sänger mit einem charakteristischen Timbre haben die Klangvorstellungen jüngerer Kollegen geprägt, nicht zu reden von von der Phonation und von spezifischen Ausdrucksgesten. Über all die Analogien und Antinomien, die Affinitäten und Differenzen hat der Tenor Giacomo Lauri-Volpi unter dem Titel Voci Parallele ein faszinierendes Buch geschrieben. Lauri-Volpi selber hat sich als „voce isolata“ bezeichnet.

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Tenor-Legende und Autor: Giacomo Lauri-Volpi.

Konkrete Beispiele erbeten: Zwischen den folgenden Sängern von Cavaradossis Weltabschiedsgesang „E lucevan le stelle“ zu unterscheiden, dazu bedarf es wohl eines lang erprobten Ohrs:

Der 1890 geborene Beniamino Gigli besaß, wie der englische Kritiker Alan Blyth mit metaphorischem Überschwang schrieb, „the most golden tenor voice“ des vergangenen Jahrhunderts. Dem Versuch, mit der baritonalen Klangfülle Carusos zu singen, hat er widerstanden. Er hat auf den Eigenreiz seines Timbres vertraut: auf einen schlanken, hell leuchtenden und sonnig warmen Klang. Der 1913 geborene Ferruccio Tagliavini gehörte nicht zu den sogenannten Jahrhunderttenören, und seine Stimme war auch nicht so perfekt durchgebildet wie die Giglis. Aber sie hatte eine ähnliche Honigsüße. In seine jungen Jahren setzte er insbesondere seine mezza voce nach der Manier Giglis ein, insbesondere für smorzando-Phrasen und Diminuendi. Aber anders als die Stimme Giglis war seine nicht robust genug für die jugendlichen Helden, die er seit 1947 an der Met sang und mit denen er sich auch deshalb überforderte, weil er sich gegenüber Giuseppe di Stefano, Richard Tucker und andere mit kräftigeren Stimmen behaupten wolle. Gegen die Regel: Singe immer innerhalb deiner eigenen Mittel.

Was aber soll ein Sänger tun, der sich von dem Bariton Titta Ruffo herausgefordert fühlt? Ruffo besaß nach vielen Zeugenaussagen eine der gewaltigsten Stimmen der Gesangsgeschichte. Der Dirigent Tullio Serafin sagte gegenüber dem Plattenproduzenten Walter Legge:

In meinem langen Leben hat es drei Wunder gegeben – Caruso, Ruffo und Ponselle. Von diesen drei abgesehen, gab es einige wundervolle Sänger.

Als „Voci Parallele“ zu Ruffo bringt Lauri-Volpi den 1913 geborenen Gino Bechi ins Spiel. Der aus Florenz gebürtige Bariton hat die italienischen Bühnen in den späten dreißiger Jahren wie ein Gladiator erobert. Serafin engagierte ihn 1938 an die Römische Oper, 1940 kam er die Mailänder Scala. Dass er in den vierziger Jahre die Szene dominierte, zeigt sich auch an seinen vielen Plattenaufnahmen. Erst in den fünfziger Jahren geriet er in den Schatten von Giuseppe Taddei und Tito Gobbi.

Was an Ruffo erinnert, ist die Art der Phonation: die gewaltigen Töne der mitteleren und der hohen Lage, besonders e-f-g, gleichen den Schlägen auf eine Glocke. Wenn man sich die Zeit zum Vergleich nimmt, ist aber zu erkennen, dass Bechi im Prolog zu Pagliacci den großen Kollegen nicht einfach nachahmt, sondern sich die Nuancen anverwandelt, insbesondere den lyrischen Innenteil („un nido di memorie“), auch die „risata“ – das Lachen – vor dem letzten Teil.

Last but not least: Tullio Serafins drittes Stimmwunder, die Sopranistin Rosa Ponselle, die 1918 an der Seite von Enrico Caruso an der Metropolitan Opera debütierte. Es gab eine weitere Stimme höchsten Rangs, die in der italo-amerikanischen Sopranistin „die Größte von uns allen sah“: Maria Callas. Die Frage sei gestellt, ob Maria Callas mit dem „Suicidio“ aus Amilcare Ponchiellis La Gioconda der bewunderten Kollegin ein Hommage dargebracht hat:

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