Es existiert kein Instrument, das sich der menschlichen Stimme vergleichen ließe, fand schon William Byrd. Ob uns ein Gesang anspricht oder nicht, ist meist schnell klar; aber schwer zu sagen, warum. Jürgen Kesting, takt1-Kolumnist und einer der international führenden Experten der Gesangskunst, führt hier in diesen „Flaschenposten“ in das kleine und große Einmaleins des Kunstgesangs ein. In loser Folge geht es ums Wesentliche: um technische Themen, um zentrale Werke, vor allem aber um große Sängerinnen und Sänger. Ihre Aufnahmen, nicht wenige mehr als hundert Jahre alt, sind Flaschenpost einer vergangenen Zeit, nicht selten lehrreich fürs Heute.
Vor einigen Wochen schrieb Charlotte Gardner darüber, dass die große englische Mezzosopranistin Dame Janet Baker in einer Rede über ihre Laufbahn sprach – über den Druck der Belastungen wie über die Zwänge, die vom Musikbetrieb ausgeübt werden. Die Grande Dame des Singens hat ihre Ziele mit dem Satz beschrieben: „Ich möchte von ernsten Dingen singen“. Das bedeutet, in einer Umkehrung, dass sie sich nie dazu bereit gefunden hat, zu den Weihewochen Inkasso-Cds mit scheinheiligen Liedern herauszubringen. Sie war die denkbar eindringlichste Stimme klagender Menschlichkeit – sei es, um in die Frühzeit der Oper zurückzugehen, für den Abschiedsgesang der Ottavia in Claudio Monteverdis L’incoronazione di Poppea oder der Dido in Henry Purcells Dido and Aeneas:
Ab 01:25 Min.: „Thy Hand, Belinda ... When I am laid in earth“ aus „Dido and Aeneas”, mit Janet Baker und dem English Chamber Orchestra unter Anthony Lewis.
Dieser Gesang ist ein weltliches Gebet – die Bitte einer Frau, man möge sich ihrer erinnern, aber ihr Schicksal zu vergessen.
Die 1933 in York geborene Janet Baker begann in einem Kinderchor, absolvierte nach dem Schulabschluss eine zweijährige Banklehre, schloss sich den Ambrosian Singers an und im Schutze eines Kollektivs erwarb sie Aufführungspraxis. 1956 gewann sie einen von der Zeitung Daily Mail ausgeschriebenen Kathleen Ferrier-Wettbewerb. Ihr Studium schloss sie bei Meriel St. Clair ab, die sie insbesondere in die französische Musik eingeführt hatte – Grundlage für die später erreichte Meisterschaft auf dem Gebiet der „Mélodies“. Daran schlossen sich Meisterkurse bei Lotte Lehmann an – die ersten Begegnungen mit dem deutschen Lied, mit Schubert, Schumann und Mahler. Als Mitglied der Händel Opera Society gastierte sie 1959 an der Londoner Saddler’s Wells. Eine Begegnung, die in ihrem Leben Epoche gemacht hat, war die mit Benjamin Britten beim Festival von Aldeburgh. Die Arbeit in dem kleinen Städtchen in Suffolk und die Arbeit mit Britten hat sie als Quelle für schöpferische Inspiration bezeichnet.
Von links: Colin Matthews, Janet Baker, Benjamin Britten und Rita Thomson beim Aldeburgh Festival 1976.
(Foto: Nigel Luckhurst / Britten-Pears Foundation)Die Ausstrahlung ihres Ruhms erreichte den ersten Höhepunkt, als sie 1971 im London Coliseum mit dem Ensemble der English National Opera die Ottavia in Monteverdis L’incoronazione di Poppea sang, 1972 in Glyndebourne wie in London die Penelope in Monteverdis Il ritorno d’Ulisse in patria und die Dido in Berlioz‘ Les Troyens an der Covent Garden Opera. Aber sie ließ sich nicht in jenen Sog der Bewunderung ziehen, die zur Selbstaufgabe führen kann, und sie entwickelte sie das Gespür für ihre stimmlichen Mittel. Sie verfügte nicht über jene verschwenderischen Reserven dramatischer Mezzos, die etwa Christa Ludwig zur Verfügung standen. Um die dramatischen Partien der italienischen Oper hat sie ebenso einen Bogen gemacht wie um die Musik von Wagner und Strauss. Ihre Wirkung erreichte sie, vor allem in den späten sechziger und in den siebziger Jahren, durch Intensität: einerseits der expressiven Textgestaltung, andererseits durch die Glut ihres Klangs.
In ihrer riesigen Diskographie finden sich Aufnahmen, bei denen sie stimmlich nicht in bester Verfassung war. Es sind wenige. Viele aber haben Referenzcharakter, wie zum Beispiel die von Glucks Orfeo. Wie nur wenige andere Interpretinnen und Interpreten ist Janet Baker in die Tiefenschichten dieses Klagegesangs eingedrungen. Bei Orfeos atem- und fassungslosen Rufen nach Euridice scheint die Zeit zum Stillstand zu kommen, wird der Schmerz zu einem Moment der Ewigkeit.
Janet Baker singt „Che farò senza Euridice“ aus Glucks „Orfeo ed Euridice“, mit dem London Philharmonic Orchestra unter Raymond Leppard.
Im Lamento des Orfeo hat Janet Baker aus der Klage die Beschwörung entbunden. Ihr Mittel, beim Hörer alle Fähigkeiten der Empathie zu aktivieren, war das Pathos ihres Vortrags. Dass dieser Begriff oftmals missverstanden wird; dass er gleichgesetzt wird mit prätentiösen Posen, ist bedauerlich. Das griechische Wort Pathos bedeutet Leid. Und wenn der Gesang in der Oper die Sprache der Leidenschaft ist, so verlangt er einen von Schmerz getränkten oder von Leid erfüllten Klang.
Janet Baker übergipfelte das Pathos ihrer Darstellung in der dem Lamento folgenden Szene. Orfeo will sich, um den Göttern zu trotzen, selber töten. Daran wird er von Amor gehindert. In trotzigem Aufbegehren – die Szenenanweisung sagt: „Gebieterisch und wie außer sich“ – ruft er:
Und du, wer bist du, der sich erkühnt, der Verzweiflung, die gegen
ihr eigenes Schicksal wütet, im Wege zu stehen?
Original: E chi sei tu che trattenere ardisci / Le dovute a' miei casi ultime furie?
Bei dem Ausruf „ultime furie“ versetzt Janet Baker die Musik um eine Oktave in die Höhe. Sie verwandelt sich in einen Schrei des Schmerzes von bestürzender Gewalt.
Mit der Partie des mythischen Sängers hat Janet Baker am 17. Juli 1982 beim Festival in Glyndebourne Abschied von der Bühne genommen. Sieben Jahre später gab sie in der Kathedrale von Wells ein Recital. Auf die Ankündigung, dass es ihr letztes sein werde, hat sie verzichtet. Ihren Entschluss hat sie in einem Interview mit dem englischen Kritiker Rupert Christiansen begründet.
„Die physische Anstrengung, dieses Schwitzen von Blut und Wasser, war zeitweilig kaum zu ertragen. Ich habe das Singen immer als schrecklich schwierig empfunden. Ich habe meine Arbeit immer als eine Sache angesehen, bei der es um Leben und Tod geht. Ich konnte ihn nicht leicht nehmen. Irgendwann kam eine Botschaft. Hörte ich eine innere Stimme, die mir sagte, daß ich gehen konnte; daß ich das getan hatte, was ich tun mußte. Es war eine Erlösung. .. Wenn ich die Tür meiner öffentlichen Karriere doch einmal öffne, nur für einen Moment und nur einen Spalt, so ist das unerträglich schmerzhaft. Ich muß es ruhen lassen; und ich muß in Ruhe gelassen werden.“
– Dame Janet Baker im Interview mit Interview mit Rupert Christiansen.
Das zeigt, dass die Lust am Singen, die immer wieder beschworen wird, bei ernsthaften Künstlerinnen und Künstlern verbunden ist mit der Last, die mit jeder Ernsthaftigkeit verbunden ist. Als Janet Baker 85 Jahre alt wurde, hat sie erzählt, dass sie ihre Platten, die sie früher nicht oder nur selten hörte, überprüft hat – und eigentlich mit sich ganz zufrieden war. Und das ist der Lohn für Ernsthaftigkeit. ¶