KESTINGS FLASCHENPOST: KLEINE SCHULE DER GESANGSKUNST

"Die ganze Welt muss ich tragen..."

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Es existiert kein Instrument, das sich der menschlichen Stimme vergleichen ließe, fand schon William Byrd. Ob uns ein Gesang anspricht oder nicht, ist meist schnell klar; aber schwer zu sagen, warum. Jürgen Kesting, takt1-Kolumnist und einer der international führenden Experten der Gesangskunst, führt hier in diesen „Flaschenposten“ in das kleine und große Einmaleins des Kunstgesangs ein. In loser Folge geht es ums Wesentliche: um technische Themen, um zentrale Werke, vor allem aber um große Sängerinnen und Sänger. Ihre Aufnahmen, nicht wenige mehr als hundert Jahre alt, sind Flaschenpost einer vergangenen Zeit, nicht selten lehrreich fürs Heute.

Jürgen Kesting
Jürgen Kesting
23.11.2022

Zu Beginn einer wundervollen Hommage des französischen Geigers und Filmemachers Bruno Monsaingeon für Dietrich Fischer-Dieskau sehen wir Leonard Bernstein, der dem Orchester bei einer Probe ein paar Takte vorsingt, sich unterbricht und heiser sagt: „Fischer-Dieskau bin ich nicht.“ Schnitt. Elisabeth Schwarzkopf: „Er war ein Gott, dem alles geschenkt wurde.“ Schnitt. Yehudi Menuhin: „Fischer-Dieskau ....“, und dann nur ein selig-verklärtes Lächeln.

fischer dieskau

Der Jüngling im Studio: Dietrich Fischer-Dieskau bei einer Aufnahme.

(Foto: Reg Wilson)

Wie groß und wie berechtigt die Skepsis gegen Lobredner auch sein mag, wer würde zu widersprechen wagen gegen diese einhelligen Urteile? Daß es keinen gibt, der für diese Rolle des „Größten“ oder „Göttlichen“ besser geeignet wäre, zeigt eine jüngst zu seinem Todestag veröffentlichte Edition der Deutschen Grammophon: rund 1900 Lieder auf 107 CDs. (Und das ist ja nur ein Teil seines Erbes, seine Diskographie enthält 4800 Einträge mit Musik von 190 Komponisten). Es ist in mehrfacher Hinsicht ein vergleichsloses Kompendium. Eine gedankliche Zeitreise führt mich zurück in die fünfziger Jahre und zu einer der ersten Begegnungen mit dem damals im Vorfrühling seiner Laufbahn stehenden Bariton: mit Robert Schumanns „Mondnacht“ aus dem Liederkreis. Es war die allererste Begegnung mit der Kunst des leisen Singens, des Singens mit der halben Stimme, eine verwirrende Begegnung – mit etwas Un-Erhörtem.

Als 1986 der von Alan Blyth edierter Band „Song on Record“ veröffentlicht wurde, sprach der als Klavier-Begleiter berühmte Graham Johnson in seiner vergleichenden Studie über den Liederkreis von einer „explosion in reverse“ und fragte: „Wie konnte es ein Sänger wagen, so wenig Stimme zu gebrauchen“. Nein, dies gelang nicht mit Hilfe des Mikrophons, das selbst den Stimmen der „Crooner“ Resonanz sichert, sondern er konnte dieses leise Singen auch bei Konzerten in großen Sälen wagen, weil selbst ein scheinbarer Hauch auf dem Atem lag und den Raum durchdrang. Auch in den sanft sich wölbenden Phrasen von Schuberts Du bist die Ruh konnte er, wie ein Festspiel-Mitschnitt. Aus Salzburg dokumentiert, mit sanfter Crescendo-Expansion bis auf das G aufsteigen.

Nun also die Wiederbegegnung und das neue Hören, seit zwei Wochen Tag für Tag, meist zwei und manchmal selbst drei FiDi-CDs, und erneut die Bewunderung für eine ganz besondere, eine einzigartige stimmliche Qualität: die Fähigkeit, den weichen, schimmernden Kopfklang der Stimme mit der mittleren, der echt-baritonalen Lage zu verschmelzen und lyrische Phrasen klanglich homogen zu formen, sie lang, länger, ja endlos lang ausklingen zu lassen, ohne sie dabei (selbstgefällig) zu überdehnen. Das Gespür für Rubato, für die Spannung und Entspannung einer Phrase, ist im wörtlichen Sinne atemberaubend.

Es ist die Wiederbegegnung mit einem Gesangslyriker, der sowohl den innig-sehnsüchtigen Ton des romantischen Liedes trifft als auch den bitteren, den schmerzlichen, und der dabei nie in Gefahr gerät, auf sentimentale oder trunkenboldige Weise eine Art von Verkaufsgespräch mit dem Publikum zu führen, wie es in den fünfziger und sechziger Jahren vor allem im deutschen Fernsehen geschah. Erneut wieder die Bewunderung für den singenden Poeten, dem die Genauigkeit der Artikulation über alles ging. In Liedern wie „Mein“ aus Schuberts Die schöne Müllerin oder „Das ist ein Flöten und Geigen“ aus Schumanns Dichterliebe, wohl noch mehr in den Mörike-Lieder von Hugo Wolf muss jedes Wort, jede Silbe ein genaues Relief erhalten – mit vollem Klang auch beim kleinsten Notenwert. In dieser Hinsicht war Fischer-Dieskau hors concours. Er blieb es bis in die siebziger Jahre, in denen er die großen Zyklen der Männerlieder von Schubert, Schumann, Liszt, Brahms, Wolf und Strauss aufnahm – mit Partnern wie Moore, Daniel Barenboim, Christoph Eschenbach und Wolfgang Sawallisch. Als Kompendium des Liedgesangs ist die Edition ein Geschenk, ein kostbares Geschenk für jeden, der an der höchsten Kunst des sängerischen Gestaltens interessiert ist. Nach Ansicht seines britischen Biographen Kenneth Whitton sind alle seine Aufnahme über jeden Einwand erhaben; und jede Einschränkung brachte Whitton dazu, ein Wort grundsätzlich mit Anführungszeichen zu versehen: „Critic“

Doch gab es der Einwände durchaus viele. Einer betraf die Stimme selber: Dass sie für die Hälfte des Bariton-Repertoires geeignet war, aber zu protestieren begann, als ihr, wie es in Schuberts Lied „Der Atlas“ heißt, das Unglück widerfuhr, die ganze Welt der Schmerzen zu tragen. „Der Atlas“, auf einen Text von Heinrich Heine, ist das achte Lied aus dem sogenannten Schwanengesang. Ein kurzes Lied, und ein subjektiv gefärbter Schmerzensausbruch – „ich trage Unerträgliches, und brechen will mir das Herz im Leibe“. In der Zielphrase – „die ganze Welt muss ich tragen“ – wird die Stimme auf das hohe As geführt. Es ist wie ein Schrei des Schmerzes – aber wie soll er klingen oder erklingen? In der Aufnahme mit Gerald Moore klingt aus der Stimme selber aller Schmerz der Welt – und die vokalen Energien sind ergiebig genug für die fff-Phrase. Hingegen ist in der Aufnahme des 60jährigen, mit Alfred Brendel, ein Atlas zu erleben, der unter den Lasten zusammenbricht. Nicht der Klang sagt, wie die Figur leidet, sondern der Sänger, dass er leidet.

Der Vergleich der beiden Aufnahmen zeigt, dass sich die Darstellung in der Intention des Sängers zwar nicht geändert haben, die Absichten aber abhängig sind von den stimmlichen Möglichkeiten, also von den vokalen Energien. In den letzten zehn, fünfzehn Jahre seiner Laufbahn war Fischer-Dieskau immer wieder gezwungen, das Nachlassen der stimmlichen Kräfte durch eine gesteigerte dramatische Deklamation zu kompensieren. In Liedern wie Schuberts „Prometheus“, in „Die Wetterfahne“ oder „Der stürmische Morgen“ aus der Winterreise, in „Der Doppelgänger“ aus dem Schwanengesang, in „Ich grolle nicht“ aus Schumanns Dichterliebe oder Edward von Carl Loewe sucht er den Ausdruck nicht länger das in den Klang gebettete Wort, sondern in der gesteigerten Deklamation. Damit geht die Balance, die ihm so wichtig war – „Töne sprechen, Worte klingen“ – verloren. Er ließ die Worte so deutlich klingen, dass der Kritiker Gerhard R. Koch ihm die Bitte schickte: „Please, stop making sense“.

In dieser Hinsicht ist die Edition auch ein Kompendium einer problematischen vokalen Manier. Es ist die eines „interventionistischen“ Sängers, der das gesungene Gesamtkunstwerk zu schaffen versucht. Den von Fischer-Dieskau ausgelösten Zwiespalt hat der englische Kritiker John Steane ebenso klug wie eindringlich beschrieben. Es gebe keine Aufnahme dieses Sängers, die er nicht mit Interesse oder oft auch mit großer Bewunderung gehört habe. Aber wie komme es nur, dass er an einem freien Abend – ohne den Zwang zu kritischer Arbeit – nie den Wunsch habe, Fischer-Dieskau zu hören. Oder besser: nie die Lust verspüre, ihn zu hören. Lust meint Eros, also das durch eine Stimme ausgelöste Vibrieren der Sinne. Bei Fischer-Dieskau sei es Caritas. ¶

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