Eine wohl nicht nur gefühlte Statistik sagt mir, dass auf eine CD mit Liedern von Beethoven fünfzehn mit Liedern von Schubert kommen. Zwei Interpreten mit hoher Reputation haben sich nun der vom 250. Geburtstag diktierten Pflichtaufgabe gestellt: der deutsche Bariton Matthias Goerne und der englische Tenor Ian Bostridge, der die Rolle des Sensibilissimus kultiviert und darob der Verehrung von Feingeistern sicher ist. Schon mit der ersten Zeile des Lieder-Zyklus An die ferne Geliebte – „Auf dem Hügel sitz ich spähend“ – hat der Brite mich nachhaltig irritiert. Nach den weniger gesungenen als gleichsam entrückt gemurmelten ersten Silben singt er die erste von „spä-hend“ mit voller Stimme, als wolle er durch die Wortbetonung – und die Überbelichtung des Umlauts „Ä“– wie mit dem Zeigefinger auf den Späher hindeuten. Vor dem Auge unserer Einbildungskraft wird aber nicht das spähende lyrische Ich selber sichtbar, sondern wir werden auf den Spähenden aufmerksam gemacht – durch einen phonetischen Pointilismus: eine illustrierende Lautmalerei. Das ist nicht nur banal, sondern falsch.
Bostridges Beethoven-Album erscheint Ende Juli 2020.
Was Bostridge hier anwendet, ist die Methode des Bänkelgesangs – wenn es nicht besser wäre, von der Banalität eines Gesangs zu sprechen, der dem Hörer nur äußerliche Zeichen aufdrängt. Um es an anderen Beispielen deutlich zu machen, denken wir einmal an Theodor W. Adorno, der eines in seinen Notizen Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion aufgeführt hat. In einer Aufführung von Gustav Mahlers Das Lied von der Erde unter dem von Adorno gering geschätzten Bruno Walter findet sich die Phrase: „Liegen wüst/ die Gärten/ der Seele/ welkt hin und stirbt/ die Freude.“ Der Tenor Julius Patzak dafür wählt einen gewollt „tragischen Ton“ – „nur das Wort Freude klingt freudig“. Das ist wiederum banal oder sentimental.
Ein zweites Beispiel: Dass die Forelle in der ersten Strophe von Schuberts Lied in einem „hellen“ Bächlein schwimmt, geht aus der Sextolen-Begleitung deutlich genug hervor. Dietrich Fischer-Dieskau war dies nicht genug – er versuchte, das „helle Bächlein“ mittels der onomatopoeia, also der Wort- und Klangmalerei, doppelt hell sprudeln zu lassen. In seinen Aufnahmen ließen sich leicht Dutzende von Beispielen dafür finden, dass er dem Hörer wie ein Lehrer mit erhobenem Zeigefinger entgegentritt und ihm sagt, was er zu hören hat und wie.
Der musikalisch erhobene Zeigefinger.
(Foto: Public Domain)Es ist, wie von dem französischen Semiologen Roland Barthes beschrieben, eine „Kunst“ des Zeigens, die uns nicht die Emotion selber vermittelt, sondern die Zeichen der Emotion zum „Ausdruck“ zu bringen versucht. Barthes spricht in seinem Aufsatz L’art vocal bourgeois von einem „pléonasme d’intention“ – vom Versuch einer Verdoppelung der Ausdrucks-Intentionen für naive Hörer, denen die „Bedeutung“ mitgeliefert werden muß. Es gebe aber, so Barthes, in der Musik eine „vérité sensuelle“, eine sinnliche Wahrheit, die nicht durch das, was wir uns als „Ausdruck“ zu bezeichnen gewöhnt haben, gestört oder überlagert werden darf. Die in den letzten zwei, drei Jahrzehnten immer wieder diskutierten Betrachtungen von Roland Barthes, konzentriert in Die Körnung der Stimme, sind nicht wirklich neu. Als einer der Letzten hat Gioachino Rossini angesichts der scheinbar realistischen Ausdruckskunst gegenüber Filippo Filippi, einem Parteigänger Verdis, betont, dass die Regungen des Herzens im Singen nicht imitiert, also nicht mit Affektlauten nachgeahmt werden dürfen, sondern dargestellt werden, also aus der Musik selber hervorgehen müssen. Die höchste „Ausdrucks“-Form der Kunst erfüllt sich in der Abstraktion – aber ohne Verzicht auf Sinnlichkeit, die in der Immanenz der Musik selber geborgen ist.
Matthias Goerne singt das erste Lied aus Beethovens Zyklus „An die ferne Geliebte“.
Sofern das zu theoretisch klingen sollte, in seiner Aufnahme von Beethovens An die ferne Geliebte verzichten Goerne oder Christian Gerhaher auf den preziösen „pointilisme phonétique“, mit dem sich Bostridge einführt. Sie zeigen, dass das Silbenstechen der Artikulation der Eloquenz der Aussprache im Wege steht. Auch das ist nicht neu, ist aber, so scheint es, weithin vergessen. Das Lob auf die Leidenschaft des Singens, auf die bedingungslose Identifikation mit der Rolle – das ist das Lob auf den Dilettantismus. Auch dazu wieder ein Beispiel aus einer ganz anderen Praxis. Bei den Dreharbeiten zu Der Marathon–Mann versetzte sich Dustin Hoffman, geprägt durch das „Method acting“, in die Rolle seines Helden. Er versuchte, ihn mit Haut und Haaren nachzuleben. Sein Partner Laurence Olivier fragte ihn mit milder Ironie:
»My dear boy, why don’t you try with acting.« ¶