Es existiert kein Instrument, das sich der menschlichen Stimme vergleichen ließe, fand schon William Byrd. Ob uns ein Gesang anspricht oder nicht, ist meist schnell klar; aber schwer zu sagen, warum. Jürgen Kesting, takt1-Kolumnist und einer der international führenden Experten der Gesangskunst, führt hier in diesen „Flaschenposten“ in das kleine und große Einmaleins des Kunstgesangs ein. In loser Folge geht es ums Wesentliche: um technische Themen, um zentrale Werke, vor allem aber um große Sängerinnen und Sänger. Ihre Aufnahmen, nicht wenige mehr als hundert Jahre alt, sind Flaschenpost einer vergangenen Zeit, nicht selten lehrreich fürs Heute.
Heute eine Coda – zu dem Sänger des Gottesnarren, der kurz vor dem Wahnsinns-Tod des Boris Godunow den erschütternden Klagegesang über das hungernde Russland anstimmte: Iwan Kozlowsky. Thema in der letzten Kolumne. Anlass, an diese Szene zu erinnern, war die Absetzung des Werks an der Oper von Warschau – nicht wegen des Themas der Oper, wegen der Kritik an der Macht, die auf verbrecherischem Weg errungen war, sondern weil es eine russische Oper ist. Ja, eine russische Oper, aber ein Klagegesang: Zur Erinnerung die Verse des Gottesnarren, der gegenüber dem Zaren sagt:
Fließet, fließet, bitterliche Tränen. Weine, weine, rechtgläubige Seele. Denn der Feind kommt bald, und das Dunkel kommt, dunkle Dunkelheit, undurchsichtige Welt. Weh, o weh Russland, wein‘, weine russisches Volks, du hungernd Volk.
Kozlowski hat diese Zeilen mit einem Klang gesungen, der wie aus dem Jenseits kommt – klagend und zugleich anklagend, ein Meisterstück vokaler Mimikry. Hier sei an den anderen Iwan Kozloski erinnert: an einen der brillantesten sowjetischen Belcantisten – Belcantist im stilistischen Sinne. Wie ist das möglich? Wie kann ein in der Region Kiew geborener Ukrainer singen wie der Spross einer Seitenlinie der Herzöge von Gonzaga, die es nach Russland verschlagen hat? Ein Beispiel: das Duett zwischen Alfred und Violetta aus dem Finalakt von La Traviata, das von der Hoffnung auf ein neues glückliches Leben singt. Es soll „a mezza voce“ und „dolcissimo“ gesungen werden. In Takt 22 wird die Tenorstimme auf ein hohes As geführt, das diminuiert werden muss.
Iwan Kozlowsky singt „Parigi o cara“ aus Giuseppe Verdis „La Traviata”.
Wenn es andere Tenöre gab, die dieser Beschwörung der utopischen Seligkeit alle Süße gegeben hat, dann waren es Sänger, die in den Dekaden vor und nach 1900 in Moskau und St. Petersburg gastierten und zu den Vorbildern russischer Sänger wurden. Auch viele Lehrer waren, wie ein Chronist berichtet, von einer „Italomania“ erfasst (Sergej Levik: Memoirs). Zu ihnen gehörten Elena Murajowa und ihr Mann Lyssenko, der wohl in Kiew ein privates Gesangsstudio leitete. Über die Oper von Charkiw, heute Stätte eines barbarischen Angriffskrieges, kam er 1926 ans Bolschoi-Theater, wo er drei Jahrzehnte lang zum Mitglied des Ensembles gehörte. In den dreißiger Jahren avancierte er offenbar zu einem Favoriten Stalins, der, so wird berichtet, den Sänger nachts und in Sauflaune in den Kreml befahl: für ein Nachtständchen mit dem ukrainischen Lied Sulika. Kozlowski setzte wohl sein Leben aufs Spiel, als er zu sagen wagte, er könne wegen einer entzündeten Kehle nicht kommen. Stalin soll ihn ob seiner Vorsicht belobigt und dann seinen Geheimdienstchef Beria aufgefordert haben, mit ihm das Lied zu singen.
Das Denkmal von Iwan Kozlowsky in Kyiv, Ukraine.
(Foto: Public Domain)Über das Leben der am Bolschoi tätigen Sänger ist wenig bekannt. In einer Ära, die Individualismus nicht duldete, geschweige denn Eigenwilligkeiten, waren Sänger ebenso wie die großen Ballerinen zwar Gegenstand der Bewunderung, wurden sie aber nicht zum öffentlichen Besitz wie die Stars in der westlichen Welt. In den drei Dekaden, in denen auch die Musik den Zwängen eines „sozialistischen Realismus“ ausgesetzt wurden, behaupteten sich viele Hauptwerke von Rossini, Verdi und Puccini, von Gounod und Massenet im Repertoire des Bolschoi. Das ist durch gut ein Dutzend Aufnahmen dokumentiert, die in den späten vierziger und fünfziger Jahren entstanden sind.
Kozlowski ist in mehr als einem Dutzend Gesamtaufnahmen zu erleben: als Glucks Orfeo und als Graf Almaviva in Rossinis Il Barbiere di Siviglia, als Herzog in Rigoletto und als Alfredo in La Traviata; als Gounods Faust und Romeo, als Massenets Werther und als Puccinis Rodolfo; als Lohengrin und als Lenski, als Wladimir in Borodins Fürst Igor und als indischer Gast in Rimsky-Korsakoffs Sadko, endlich als Sinodal in Rubinsteins Dämon.
Um das Stichwort aufzunehmen: der russische Belcantist und der vergleichende Hinweis zu Fernando de Lucia. Dessen Platten habe Arturo Toscanini, wie erzählt wird, nur deshalb aufbewahrt, um einmal am Tag lachen zu können.
Lachen – worüber? Über lange Rubati – also über Dehnungen von Zielnoten durch den Einsatz der messa di voce. Ein erstes Beispiel: das Duett des Herzogs, der in das Haus Rigolettos eingedrungen ist. Er hört, wie Rigolettos Tochter gegenüber Giovanna von ihrer Liebe zu einem unbekannten jungen Manne schwärmt – der plötzlich vor ihr steht. Dann folgt ein zärtliches Andantino – „È il sol dell’anima“ –, in dem er von den Wonnen schwärmt.
„È il sol dell’anima“ aus „Rigoletto“ von Giuseppe Verdi mit Fernando de Lucia und Josefina Huguet.
Dass Iwan Kozlowski diese Aufnahme gekannt hat, ist nicht wahrscheinlich. Er singt diese Musik wie der Italiener. Oder besser: Er kostet ihre ornamentalen Formeln, etwa die kleinen Schleifen oder die Diminuendi, mit belcantischer Grazie aus.
Um ein zweites Stichwort aufzunehmen: Dass Arturo Toscanini die Platten de Lucias nur aufbewahrt hat, um einmal am Tag lachen zu können. In Toscaninis Verdi-Aufnahmen gibt es nie, wirklich nie die Momente des Verweilens, nie jene Empfindungsmomente, in denen dem Augenblick zugerufen wird: „Verweile doch, du bist so schön“. Wenn der Tenor Jan Peerce in Toscaninis vielgerühmter Aufnahme von La Traviata sich der „momenti spiriti“ der Seligkeit des Liebesglücks erinnert, ist es kein Moment des emotionalen Innehaltens – da ist ein junger Mann im Rausch zu erleben.
„De’miei bollenti spiriti“ aus Giuseppe Verdis „La Traviata“ mit Jan Peerce und Arturo Toscanini.
Über die dynamischen Verzierungen – mehrfach ppp und morendo – geht Jan Peerce hinweg. Die Seligkeit der Phrase – „del l’universo immemore io vivo, i vio quasi in ciel“ – kann eigentlich nur in einem Zeit-Raum sinnfällig werden, aber, von Toscanini getrieben, hastet Peerce über diesen Moment, in dem die Zeit gleichsam stillsteht, hinweg. Kozlowski singt die Arie so, wie sie auch von Fernando de Lucia gesungen worden ist: sein Alfredo träumt dem Moment, in dem er vom coup de foudre getroffen wurde, nach. Auch wenn es womöglich der Gewöhnung bedarf, die Arie in russischer Sprache zu hören, ihre poetische Innigkeit erlebt man in der Aufnahme des russischen Belcantisten:
„De’miei bollenti spiriti“ aus Giuseppe Verdis „La Traviata“ mit Iwan Kozlowski.
Ein kurze Coda. Kozlowskis Tenor war keine schöne Stimme wie die einiger der großen Italiener. Sie war hell und manchmal gleißend. Dass sie bisweilen hart funkelte wie Stahl, mag auf die Aufnahmetechnik der russischen Studios zurückzuführen sein. Es bedarf der Einübung, eines erworbenen Geschmacks, um den herben Zauber dieser Stimme und dieses Singens zu genießen. ¶